Grabstein - Mùbei: Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962 (German Edition)
einer solchen Gesellschaftsstruktur können sich politische Fehler ungehindert ausbreiten, sie werden nicht nur nicht aufgehalten und korrigiert, im Gegenteil, ihre Auswirkungen vervielfachen sich von Ebene zu Ebene.
Von einer solchen Gesellschaftsstruktur wird alles und jedes erfasst. Als die namhafte Autorin Zhang Yihe in Sichuan zur Rechtsabweichlerin gestempelt wurde, sagte Zhang Bojun, ihr Vater, zu ihr: »Du musst unbedingt überleben, auch wenn sie dich zum Verbrecher machen, du musst überleben!« Zhang Yihe antwortete voller Trauer: »Ach, aber wie denn!« In einer solchen Gesellschaftsstruktur fanden nicht einmal die Hungerflüchtlinge Zuflucht.
Das unsichtbare System zur Bindung der Menschen
Das Gesagte bezog sich auf das sichtbare System. Die normative Kraft von unsichtbaren ist allerdings oft weit größer als die von sichtbaren Systemen. Solch ein unsichtbares System weist auf die Verbindung von zwei Polen: zum einen das Wertesystem, das über ideologische Infiltrierung errichtet wurde, zum anderen die kulturellen Traditionen Chinas.
Das Wertesystem, das Mao Zedong errichtete, verband die Ideale des Kommunismus, die Lehre vom Klassenkampf, die Philosophie eines permanenten Kampfes mit Moralvorstellungen wie dem Opfer des Einzelnen für den Erhalt der Gemeinschaft. Dieses Wertesystem wurde tief in den Herzen der Menschen verankert und lieferte den Maßstab für Richtig und Falsch, Gut und Böse, Schön und Hässlich.
In dem monarchischen Denken, das sich über die Jahrtausende gebildet hatte, ist der Fürst das Nonplusultra und die Sedimente dieses Wertesystems sind unglaublich mächtig. Der Fürst ist die Verkörperung von Gesetz und Ordnung, er ist der entscheidende Faktor für Ordnung oder Chaos, Aufstieg oder Niedergang, er ist der oberste Erzieher der Gesellschaft (die Einheit von Politik und Glaube), er ist die oberste Instanz der Erkenntnis. Der Fürst ist der Vater, er kümmert sich um seine Untertanen und diese müssen von sich aus ihren Status als Kinder und Untertanen anerkennen, sie sind Werkzeuge. An der Stelle von Gleichberechtigung, Würde des Einzelnen und Unabhängigkeit des Individuums stehen im Monarchismus Abhängigkeit, blinde Gefolgschaft und Knechtschaft.
Einiges von der traditionellen Kultur, deren wichtigstes Merkmal dieser Monarchismus war, vermischte sich mit dem Wertesystem der Kommunistischen Partei und bildete das ideologische Fundament des Kollektivismus. Wenn es im traditionellen Denken zum Beispiel hieß, man solle bereit sein, »für eine gerechte Sache sein Leben einzusetzen und zu opfern«, so wurde nun die »gerechte Sache« einfach durch »Kommunismus« ersetzt. Die Menschen folgten abergläubisch ihrem Führer, sie vergötterten die Macht und machten gute Miene zu jedem bösen Spiel.
Als die Unterdrückung näher kam, versuchten sie sich mit Betrug zu retten und mit dem Verrat von Freunden die eigene Sicherheit zu erkaufen. Auf jeder Stufe der Macht war jeder zugleich Herr und Sklave: Vor seinen Oberen war er Sklave, vor seinen Untergebenen Herr. Der Wille der obersten Ebene blähte sich auf dem Weg nach unten immer weiter auf, während die Stimme der untersten Ebene von den Ebenen über ihr erstickt wurde. Die Peitschen der Macht machten das Paradies umso verlockender, so dass die Kader vollständig den Verstand verloren, sie wurden zu Wahnsinnigen, zu Betrügern und mit Geißeln bewaffneten Sklaventreibern.
Das unsichtbare System hat nicht nur die Handlungen der Menschen gebunden, es hat auch ein breites moralisches und psychologisches Umfeld geschaffen, in dem jeder gleichermaßen Opfer und Täter war. Aus diesem Grund trug jeder mehr oder weniger Verantwortung für das Fortbestehen des Systems, für das Rotieren dieser von Menschen betriebenen Maschine.
Kapitel 15
Der Einfluss der Hungersnot auf die chinesische Politik
Die wichtigen Ereignisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schienen durch folgendes logische Band miteinander verknüpft: ohne den Kampf gegen rechts keine Drei Roten Banner; ohne die Drei Roten Banner keine Hungersnot; ohne Hungersnot keine Kampagne gegen rechte Tendenzen und dann auch keine Vier Säuberungen und keine Kulturrevolution; ohne Kulturrevolution, die die Dinge ins Extrem trieb, keine Reform des Wirtschaftssystems.
Anfang 1962 angesichts der Millionen von Hungertoten und der schweren volkswirtschaftlichen Probleme kam die Zerstrittenheit der obersten Führungsschicht in China wieder an die Oberfläche. Liu Shaoqi
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