Graf Petöfy
wie der Graf behauptete.
Regelmäßig auf diesen Partien sah sich der Pater von Graf Adam, der selber noch ein guter »Steiger« war, begleitet, und während sie so halbe Tage lang in den Bergen umherkletterten, war Franziska drüben bei der Gräfin und mühte sich, ihr durch Vorlesen oder Plauderei die Stunden der Einsamkeit zu verkürzen.
Ein solcher Tag war auch heute wieder. Der Lehnstuhl der alten Dame war, als der Sonnenhall eben zu sinken anfing, auf den Balkon geschoben worden, und von den Bergen her klang die Vesperglocke.
Beide horchten hinüber und sahen dabei still auf den Glutstreifen, der noch über den Tannen hing. Als aber die Glocke eine Weile schwieg, sagte die Gräfin: »Ist es nicht schön? All das habt ihr nicht in eurem protestantischen Nebellande.«
»Doch, gnädigste Gräfin, wir haben es auch. Wir nennen es nur anders.«
»Und das wäre?«
»Wir nennen es die ›Betglocke läuten‹, und ich habe selber unzähligemal an dem Glockenseil gezogen. Überhaupt möcht ich doch sagen dürfen, wir sind nicht voll so heidnisch, wie die gnädigste Gräfin glauben. Wir haben auch den Gekreuzigten, und jede Kirche hat sein Bild, zu dem wir andächtig aufblicken.«
Die Gräfin lächelte halb ungläubig, aber doch halb auch wie freudig überrascht und sagte dann: »Ich habe mir erzählen lassen, in euren Kirchen hinge noch immer der wittenbergische Doktor, den ihr den Reformator und Wiederhersteller der reinen Lehre nennt, und in mancher Gemeinde ginge man noch einen Schritt weiter und verehre bloß den preußischen König. Ich meine den König Friedrich den Zweiten. Und man hat mir sogar gesagt – ich zögere freilich, es nachzusprechen –, es gäbe Bilder, auf denen er wie Gott selber im Himmel säße mit seinen Generalen rund um sich her, und jeder Preuße glaube mehr oder weniger ernsthaft, daß sein großer König von dort aus regiere bloß in der Absicht, sein Land immer größer zu machen.«
»Ja, solche Bilder gibt es, gnädigste Gräfin, aber doch nicht in unseren Kirchen. In unseren Kirchen haben wir außer dem Christusbilde, von dem ich schon sprach, nur Kriegsdenkmünzen und große schwarze Holztafeln, auf denen mit weißer Schrift die Namen derer stehen, die für König und Vaterland gestorben sind. Und wenn uns die Predigt oder das oft sehr vielstrophige Lied, das gesungen wird, zu lange dauert, so lesen wir diese Namen, und es ist dann mitunter ein Glück, daß sie da sind.«
»Und keine Jungfrau Maria?«
Franziska lächelte.
»Sie lächeln, mein liebes Fräulein, und haben ein Recht, es zu tun. Es ist wirklich ein großes Unrecht, daß wir sowenig voneinander wissen und uns gegenseitig verurteilen ohne Kenntnis dessen, das wir zum Gegenstand unserer Herzensfeindschaft machen. Ich habe mitunter ein rechtes Verlangen, aus dieser Unkenntnis herauszukommen, und Sie, liebe Franziska, sollen mir dazu helfen. Sie müssen mir alle norddeutschen Sitten und Gebräuche schildern, und wenn das Erzählte nicht aus der protestantischen Kirche sein kann, nun dann, so lassen Sie's aus dem protestantischen Leben sein. Aus dem Leben kann ich dann Rückschlüsse ziehen auf den Glauben, weil das Leben ein Kind des Glaubens ist. Ich denke mir, meine liebe Franziska, wir beginnen am besten gleich, oder Sie geben mir, wenn nicht mehr, so doch wenigstens einen Vorschmack. Erzählen Sie mir von Ihrer Stadt an der Ostsee. War es nicht an der Ostsee?«
Franziska nickte.
»Nun denn, da muß ja die Stelle ganz in der Nähe sein, wo der König von Thule seinen Becher ins Meer geworfen. Ohne die Ballade wüßt ich nichts davon, und so hat auch das allerweltlichste Gedicht immer noch sein Gutes. Ich denke mir Ihre kleine Stadt auf einer Sandbank gelegen und immer in Gefahr, vom Meere verschlungen zu werden. Ist es so?«
Franziska hatte mit ihrer Antwort auf die verschiedenen Fragen und Wünsche der Gräfin eben begonnen, als Graf Adam und Feßler eintraten und nach kurzer Begrüßung der Damen ihre Stühle bis ebenfalls an die Balkontür rückten.
»Stören wir?«
»Oh, nicht doch«, sagte die Gräfin. »Im Gegenteil, wie gerufen. Unsere liebe Freundin war eben im Begriff, mir etwas von ihrer nordischen Heimat vorzuplaudern, einer kleinen Hafen- oder Badestadt an der Ausmündung der Oder.«
»Ah, an der Oder«, wiederholte Feßler. »Ein gut katholischer Strom.«
»Ja«, warf Franziska rasch ein. »Aber doch nur zu Beginn, nur in der Enge des Gebirges. Sobald er ins Freie tritt, wird er
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