Grafeneck
gleich. Vielleicht ist das richtig so. Aber ich kann das nicht.
Es ist gut, was Waltz macht, denkt Mauser. Daß er die Geschichten ausgräbt, die Geschichten zu all den Namen, die sich hier finden. Daß er sie erzählt und bewahrt. Das ist gut. Mir genügt schon, denkt er, wenn ich die eine Geschichte heraus find, die Geschichte dieser einen Leich.
Während Veronika bei den Latten stehen bleibt, geht Mauser zurück durch den Friedhof. Beugt sich manchmal herab, um die Schriften zu entziffern. Eine Jungfrau Sara Adler starb mit zweiundzwanzig Jahren. Eine Tote nicht lesbaren Namens verblich 1881 in einer Heilanstalt. Einer aus Kiew starb im Ersten Weltkrieg in einem Lazarett. Dann die vielen schwäbischen Namen, die sich die Juden im achtzehnten Jahrhundert unter dem Schutzbrief selber geben durften. Rieser, Hofheimer, Lindauer. Die biblischen Vornamen geben eine unfreiwillige Komik dazu, die das ganze Leben im Dorf, das Nebeneinander und Füreinander, ausdrückt. Das Leben der Juden in Buttenhausen: Moses Oetinger und Esther Seligmann Schwab.
Veronika holt ihn ein. Sie setzen sich auf die Bank am Eingang.
»Eine Geschichte solltest du dir anhören«, sagt sie. »Bloß zwei Namen, aber wenn man die Geschichte dazu kennt …«
»Erzähl schon.«
»Eine Sofie Levi und ihre Tochter Rosa schluckten am 27. Oktober 1940 Tabletten, um dem Auto zu entgehen.«
»Das Auto, ja.« Mauser nickt. »Das war für die Juden, was der Bus für Mutz war.«
»Die Mutter war sofort tot, Rosa starb erst einen Tag später. Sie hätte gerettet werden können, stell dir das vor. Der Arzt hat sich geweigert, sie zu retten. Wenn er sie gerettet hätte, wäre sie nach Auschwitz oder Theresienstadt gekommen und dort gestorben.«
»Hältst du das für Unrecht?«
»Was?«
»Daß der Arzt sie nicht gerettet hat?«
Veronika zuckt die Schultern. »Der Arzt meinte, er sei von seinem Eid her nur verpflichtet, nicht zu töten, aber nicht, Leben zu verlängern.«
»Vielleicht hätte sie ja das KZ überlebt«, meint Mauser. Recht oder Unrecht, wer will das entscheiden. Irgendwie hat Greving recht.
»Zu Fuß mußten sie den Sarg ins Trauerhaus tragen, weil sie keinen Wagen benutzen durften. Und die Trauerrede wurde von einem grölenden Pöbel übertönt, den die Nazis eigens angeheuert hatten. Stell dir das vor!«
»Vorstellen muß man es sich«, sagt Mauser und nickt wieder.
»Du nickst immer nur«, meint Veronika und nimmt seine Hand. »Ich möchte einmal wissen, woran du immer herumdenkst. Mit dir stimmt doch was nicht.«
»Mich regt es halt manchmal auf, wie sehr du dich um die Juden kümmerst. Und was mit meiner Familie ist, ist dir egal. Es hat keine Nazis in Buttenhausen gegeben. Oder fast keine. Die kamen alle von außerhalb.«
»Ich weiß. Dein Vater hat sich gegen sie gestellt.«
»Mein Vater«, fährt Mauser plötzlich auf. »Was weißt denn du davon? Er war kein Held. Wie er da den SA-Führer mit seiner P 04 in Schach gehalten hat, das war doch keine Heldentat. Er hat einfach getan, was er für richtig gehalten hat. Vielleicht hätte er auch jemanden erschossen, wenn er das für richtig gehalten hätte.«
»Jemand erschossen? In Ausübung seines Amtes, meinst du?«
»Was weiß ich! Vielleicht einen Juden, wenn er das für richtig gehalten hätte. Irgendeinen Grund würde er schon gehabt haben.«
»Einen Juden? Dein Vater?«
»Mein Vater hat nicht die Juden deshalb beschützt, weil es Juden waren. Er hat es nur für Unrecht gehalten, was man mit ihnen gemacht hat. Das ist was anderes.«
»Für dich war dein Vater immer ein Vorbild«, sagt Veronika behutsam.
»Vorbild! Was weiß ich denn von der Vergangenheit. Da war ich noch zu klein, um das alles zu verstehen. Was weiß ich denn, was in ihm vorgegangen ist nach Mutters Tod? Nichts weiß ich.«
»Komm, gehen wir heim. Ich hab einen Kuchen gebacken.«
Mauser schüttelt den Kopf. Heimgehen, das kann er nicht. Er muß sich die Kugel unterm Mikroskop genauer ansehen. Das Rillenprofil aufzeichnen. Dann hätte er ein Vergleichsmuster und könnte herausfinden, ob die Pistole seines Vaters tatsächlich die Tatwaffe ist.
»Kann nicht. Hab was zu erledigen.«
»Aber jetzt sind Ferien.«
»Nicht für mich.«
Sie schüttelt verständnislos den Kopf. Aber sie weiß, daß er mit etwas Eigenem beschäftigt ist. Sie wird nicht an ihn herankommen und wird vielleicht nie erfahren, was ihn so umgetrieben hat.
»Du weißt, ich hab dich lieb«, sagt sie.
Sie stehen auf und verlassen
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