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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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nichts.
    »Aber vielleicht erinnern Sie sich an irgendein Vorkommnis gegen Ende des Krieges, irgend etwas Außergewöhnliches. Daß ein Mann verschwunden ist oder so. Ihr Vater war doch Polizist.«
    »Ich weiß von nichts. Hier in Buttenhausen ist kaum was passiert. Nazis haben wir keine gehabt, und die Juden waren schon weg.«
    »Die Juden?«
    »Es waren viele hier in Buttenhausen«, erzählt Eugen. »Die haben hier seit zweihundert Jahren gelebt. Wegen dem Schutzbrief, wissen Sie«. Das ist eigentlich Waltz’ Thema, aber der hält sich zurück. Schiebt seine Karten hin und her, tut, als achte er nur auf das Spiel. Sicher hört er aufmerksam zu, denkt Mauser.
    »Waltz, sag du doch mal was dazu«, meint Eugen.
    »Wissen Sie etwas?« fragt Greving.
    »Von den Juden, von denen weiß ich viel. Ich habe den jüdischen Friedhof gepflegt. Ich kenne alle Juden, die hier gelebt haben. Vierzig sind sie abgeholt worden, mit dem Auto. Jeder einzelne. Wir haben ja nicht gewußt, was das für Lager sind …«
    »Mit dem Auto abgeholt? Die SS, meinen Sie?«
    »Oder die Gestapo. So genau, wie man heut will, so hat das keiner gewußt.«
    »Haben die Juden denn irgendein besonderes Zeichen getragen hier in Buttenhausen?«
    Waltz schüttelt den Kopf. »Nicht mal den Judenstern. Das hat’s hier nicht gebraucht. Wenn sie gekommen sind, die Nazis, dann haben sie ihn getragen, aber sobald die wieder weg waren, haben sie die Jacken in den Schrank gehängt. Hermann, dein Vater war doch Polizist. Der hätte doch die Juden verhaften sollen, oder nicht?«
    Mauser hat seine Karten sortiert und wartet auf Waltz’ Gebot. Das Thema gefällt ihm nicht. Der Kommissar weiß etwas, was er nicht preisgibt. Er will etwas rausbekommen, das spürt Mauser. Er wird vorsichtig.
    »Hat sie nicht verhaftet. Hat sie auch nicht gezwungen, den Judenstern zu tragen.«
    »Und hat er deswegen nicht Ärger bekommen?«
    Greving ist neugierig. Vielleicht fragt er doch nicht nur aus beruflichem Interesse. Vielleicht gefallen ihm die alten Geschichten, er hat ja gesagt, daß man nichts als ein Haufen Geschichten in der Hand hat, wenn man die Wahrheit sucht. Er geht durchs Dorf und läßt sich Geschichten erzählen, hört den Alten zu, hat keine Ahnung, wie das Leben hier in Buttenhausen gewesen ist und wie es heute ist, hat keine Ahnung, daß man gewisse Dinge besser unberührt läßt. Der Geschichtensucher.
    »Nein. Wir haben hier keine Nazis gehabt, ’s sind immer Rollkommandos gewesen, von außerhalb. Sind hierhergekommen, wenn’s was gab.«
    »Kann es sein, daß die abtransportierten Juden eine Markierung auf den Rücken bekamen?« fragt Greving beiläufig.
    »Eine Markierung?«
    »Ein Kreidekreuz vielleicht.«
    Das also ist es. Sie haben auf dem Anzug ein Kreidekreuz gefunden und verfolgen nun die erste Spur. Greving läßt sich nichts anmerken. Aufpassen, denkt Mauser. Ich muß rauskriegen, was die wissen.
    »Davon weiß ich nichts«, sagt Mauser. »Da dran kann ich mich nicht erinnern.«
    »Die Juden, die sind einfach ins Auto verladen worden«, erzählt Waltz. »Das Auto ist weggefahren, wahrscheinlich nach Reutlingen runter, und das war’s.«
    »Schade. Kennen Sie jemanden hier im Dorf, der vielleicht mehr weiß? Irgendein Angehöriger oder Nachbar?«
    »Wissen Sie, Herr Kommissar«, sagt Eugen und richtet sich auf. »Wo’s nicht brennt, tät ich auch nicht spritzen.«
    Greving schaut ihn an und lächelt.
    »Von den Juden lebt keiner mehr hier«, erzählt Waltz. »Und Nachbarn, die gibt’s auch keine mehr. Von damals sind nicht mehr viele übrig. Zweihundert«, beginnt Waltz zu reizen.
    »Zweihundertfünfzig.«
    Mauser hat ein schlechtes Blatt, aber vielleicht kommt mit dem Dapp der zweite Binokel, dann kann er schon einmal dreihundert melden. Er merkt, daß seine Hände leicht zittern. Wenn der wüßte, denkt Mauser. Zu Hause im Plastikbeutel liegt die Kugel, und der geht durchs Dorf und fragt nach einem Kreidekreuz. Eine Wut packt ihn plötzlich, er weiß nicht woher und auf wen. Reizt bis dreihundert, als wollte er es ihnen allen zeigen. Die Erwähnung seines Vaters hat ihn wirr gemacht. Widerstand. Keine Nazis in Buttenhausen. Und wenn der Tote nun ein Jude war? Und wenn sein Vater den nun erschossen hat? Vielleicht haben sie ihn dazu gezwungen. Ihm die alte P 04 in die Hand gedrückt und zu ihm gesagt: Schieß, oder du kommst ins Lager! Bei Nacht und Nebel, oben auf der Höhle im Wald. Er versucht es sich vorzustellen und hat plötzlich ein flaues

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