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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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»Ich find, jeder Mensch hat irgendwie die Entscheidung über sein Leben. Einer entscheidet sich für Recht oder Unrecht. Nicht für immer, aber trotzdem. Einer ist verantwortlich. Einer hat Schuld.«
    »Um so mehr brauchen wir Erbarmen.«
    »Aber glauben Sie denn nicht, daß früher oder später alles ans Licht kommt? Daß jedes Unrecht … gesühnt wird?«
    »Am Schluß. Die Entscheidung über Recht und Unrecht sollten wir besser Gott überlassen. In der Welt gibt es zu viel Schatten. Wissen Sie, Herr Mauser, wenn es den Schatten nicht gäbe, dann könnten wir mit bloßem Auge das Licht sehen. Dann wäre alles gleich am Tag, und es gäbe keine Verdunklungen, keine Täuschungen, keine Lügen. Aber die Welt ist ein Ort voller Dämmerungen. Das Auge täuscht.«
    Er dreht sich nach Mauser um und schaut ihn von der Seite an. »Die Wurst schmeckt gut«, sagt er lächelnd.
    »Schwarzwurst. Mit Senf.«
    Greving schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, ob wir diesen Fall je aufklären.«
    Mauser fährt auf. »Was sagen Sie da? Warum sollten wir ihn nicht aufklären?«
    »Wir?« Greving schaut ihm direkt in die Augen. Mauser ist wütend, er Weiß nicht worüber.
    »Einer muß die Vergangenheit wieder zusammenbauen können. Sonst erfährt einer nie, was passiert ist. Sonst kann einer Recht und Unrecht nicht auseinanderhalten.«
    »Eben. Das meine ich. Und was die Rekonstruktion der Vergangenheit anbetrifft: In der Polizeiarbeit sind wir auf Indizien und Zeugen angewiesen. Wir haben keine Beweise. Nicht so wie in der Naturwissenschaft. Wir können nur warten, bis sich eine Geschichte abzeichnet. Wir deuten, Herr Mauser. Wir erfinden Geschichten, um die Fakten in eine Übereinstimmung zu bringen. Das ist alles. Aber es gibt viele Geschichten, und es bleibt immer ein Rest, der nicht aufgeht.«
    »Da bin ich anderer Meinung.« Mauser ist immer noch wütend. Wenn die Kriminaler schon aufgeben, noch bevor’s angefangen hat, denkt er. Ich geb nicht auf. Einer kann doch nicht mit einer erfundenen Geschichte leben.
    Mit etwas, das einer sich selber ausgedacht hat. Das geht nicht.
    »Wie können Sie als Kommissar Ihre Arbeit machen, wenn Sie so denken?«
    »Wie können Sie als Lehrer Kinder unterrichten, wenn Sie ihnen immer nur Schwarz oder Weiß beibringen? Sie sind kein Pfarrer.«
    Mauser kneift den Mund zusammen. Der Mann macht ihn wütend. Mauser überlegt, was ihn daran so erzürnt. Ihm kann es ja egal sein, wie der seine Arbeit macht. Die Wahrheit, das ist meine Angelegenheit, denkt er. So muß sich Vater gefühlt haben, als er dem Sturmtrupp entgegengetreten ist. Als er sich geweigert hat, die Juden zu verhaften. Wer bin ich, daß ich Menschen verurteilen will? fragt er sich. Das will ich nicht. Aber ich will ihnen die Wahrheit entgegenhalten, daß es mit aller Lüge und Feigheit vorbei ist. Das ist es, was mich wütend macht: Lüge und Feigheit. Wenn einer schon das Unrecht wählt, dann soll er auch keine Gelegenheit zur Ausflucht haben. Er soll sich dem stellen, was er getan hat, und die Verantwortung übernehmen.
    »Wissen Sie«, fährt Greving fort, »an Ostern komme ich ins Nachdenken. Ob Ostern wirklich für uns ein Hoffnungszeichen ist. Ob sich seither wirklich etwas geändert hat. Ich finde, schon.«
    Mauser hat keine Lust, über Religion zu reden. Er ißt sein Brot auf und schraubt den Deckel auf die Thermosflasche.
    »Eine Hoffnung brauchen wir. Meine Hoffnung ist, wissen Sie, Herr Mauser …« Greving zögert und wirft Mauser wieder einen Blick zu. Aber Mauser hat sich abgewandt und packt die Flasche in seinen Rucksack.
    Da kannst reden, wie du willst, sagt sich Mauser. Die Kugel werdet ihr nicht finden. Die hab ich. Findet ihr mal heraus, wer die Leich überhaupt ist.
    »Ich muß weiter«, sagt er. Greving schaut ihn erstaunt an.
    »Schade. Ich dachte, wir könnten hier noch ein wenig sitzen und plaudern. Es ist ein schöner Ort, so mitten im Wald.«
    »Ich muß, Herr Kommissar. Ist Ihr Kaffee leer?«
    »Übrigens«, sagt Greving und gibt ihm den leeren Becher, »Herr Mattes hat Sie am Tag, bevor Sie die Leiche entdeckt haben wollen, an der Höhle gesehen.«
    Mauser steht auf. »Kann schon sein.«
    »Was haben Sie denn da gemacht?«
    »Hab den Südgang erkundet. Die Höhle hat zwei Gänge. Auf den Ostgang bin ich erst am Tag draufgestoßen.«
    »Sie haben also mehrere Tage die Höhle erkundet?«
    »Ja. Warum?«
    »Nichts weiter, Herr Mauser. Ich dachte, vielleicht hat das damit zu tun, daß Sie den Fund erst am

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