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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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hat, und versucht, an ihn heranzukommen. Ein alter Igel ist er, denkt sie. Wenn er was hat, spricht er mit niemandem darüber. Frißt alles in sich hinein.
    »Die Grabsteine sind chronologisch von unten nach oben geordnet«, erzählt sie. »Und von links nach rechts. Drüben, im rechten Teil, stehen die neueren. Die reichen schon in die Nazi-Zeit. Hast du dir die mal angeschaut?«
    »Wozu?«
    »Sie erzählen Geschichten«, sagt sie.
    »Das hast du mir schon mal weismachen wollen.«
    Mauser schaut sich um. Ja, in gewisser Weise gefallen ihm die Grabsteine. Sie sind anders als die christlichen, vielleicht bloß, weil sie älter sind. Aber sie sehen nicht aus wie Grabsteine, eher wie Denkmäler. Es gibt barocke Säulenreliefs und florale Ornamentik, es gibt deutsche und hebräische Inschriften, die orientalischen Zeichen nehmen sich merkwürdig aus hier am Hang über dem Lautertal. Sandsteinplatten, eingemeißelt die Worte vom Sinai. So müssen Moses Gesetzestafeln ausgesehen haben. Auf manchen Steinen ist nichts drauf, der Name schon verwittert, das Schicksal unbekannt. Unter dem abbröselnden Sand ist der Stein grau. Sprachlos, ein Totenmal ohne Andenken an den Menschen.
    Gedenken kann er hier sowieso nicht. Er hat keinen von den Juden richtig gekannt. Als sie abgeholt wurden vom Auto, war er gerade mal vier Jahre alt. Er kennt sie sozusagen nur historisch. Bei Waltz ist das anders.
    »Oben hab ich eine Grabplatte gefunden, die von der Stelle gerückt ist«, erzählt Veronika. »Das sieht aus, als hätte die Auferstehung schon stattgefunden.«
    »Mach keine Witze über Sachen, an die du nicht glaubst.«
    »Ich glaube doch daran«, sagt sie.
    »Tust du nicht.«
    »Die Menschen mosaischen Glaubens glauben daran«, sagt sie.
    »Was hast du nur immer mit den Juden. Ist dir denn sonst nichts wichtig?«
    »Aber deshalb wird kein Friedhof aufgegeben, verstehst du? Weil sie an die Auferstehung glauben. An die leibliche.«
    Mauser nickt.
    Die Namen auf den Grabsteinen umgeben ihn wie eine stumme Versammlung. Als wollten sie ihm etwas sagen, was sie ihm in all den Jahren nicht gesagt haben. Es sind fremde Namen. Kohens haben segnende Hände im Epitaph, sie stammen angeblich von den biblischen Priestern ab. Levis. Löwentals. Rosengarts. Ein Krug. Ein aufgeschlagenes Buch mit einem Messer darunter. Buchstaben geben mit ihrem Zahlenwert das Todesjahr nach dem jüdischen Kalender. Mauser weiß das. Er hat ja auch viel mit Waltz gesprochen. Er kennt ja die Aufzeichnungen, die Waltz gemacht hat. Seit über zwanzig Jahren kümmert er sich um den Friedhof. Im hinteren Teil stehen Holzlatten in die Erde gerammt. Dort gehen sie jetzt hin, zu zweit. Veronika wird stumm, wie jedes Mal, wenn sie hier ist. Ihr geht das Schicksal nahe, das sich in diesen Holzlatten darstellt. Kann man das? fragt sich Mauser. Stumm werden wegen ein paar Holzlatten? Können die einem ein Andenken geben? Man muß sich eine Menge dazu vorstellen, zu jeder Latte einen Menschen, eine Familie, ein qualvolles Sterben in den KZs. Und doch sind es bloß Holzlatten, wenn man sie genauer anschaut. Mit Kreide steht ein Name darauf geschrieben. Auf ihnen liegt ein Steinchen. Das sieht aus, als gehörte es so, als seien Andenken und Schicksal abgezählt, für jeden sein eigenes. Aber die Steinchen wurden von Besuchern daraufgelegt, das weiß Mauser. So ehren Juden das Andenken ihrer Toten und mehren es mit jedem Stein, der dazukommt. Haufen liegen auf den Grabsteinen, zwischen Schneckenhäusern und Nußschalen, umschleiert vom Gespinst zahlloser Albsommer. Nur hat es auf den Holzlatten nicht mehr Platz als für einen Stein.
    Für Mutz sollte es auch so eine Holzlatte geben, denkt Mauser. Auch so ein Steinchen. Jedes Mal, wenn er hier heraufkäme, würde er eines ansammeln. Veronika versteht das mit dem Andenken falsch. Sie legt Blütenblätter von Rosen unter die Steinchen. Das ist so ihre Art von Andenken. Sentimentalität, denkt er. Frauen sind so. Sie ist keine Jüdin und meint, daß sie so die Toten ehren kann. Ihr sind nicht alle Toten gleich. Die einen sind ihr Opfer, die anderen Täter. Aber manchmal ist es nicht so leicht, Opfer und Täter auseinanderzuhalten. Wo wohl die Leich aus der Höhle beerdigt werden wird? Dazu müssen sie zuerst einmal herausfinden, wer sie ist. Die Toten zu ehren, das können nur Betroffene. Veronika macht sich zu einer Betroffenen, fällt Mauser auf. Überall macht sie sich betroffen. Überall will sie dabei sein. Ihr ist alles Leid

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