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Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
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Araber sein. Junghengste, die noch in einer Herde gehalten werden, bevor sie auf die Hengstprüfungen im Herbst vorbereitet und angeritten werden, an den neuen Schwerpunkt mit Reiter gewöhnt. Sie kennen einander, haben Freundschaften untereinander, Leithengste offenbaren sich und gutmütige Folger, sie spielen miteinander und sind geborgen in der Gemeinschaft.
    Manchmal wär ich gern einer von ihnen, denkt Greving.
    Drei Hengste nähern sich dem Zaun und äugen neugierig herüber. Sie knabbern einander am Widerrist, eine Geste der Zuneigung. Greving rupft Hände voll Gras und tritt an den Zaun. Hält dem mutigsten das Futter hin. Er kommt näher und schnappt ihm das Gras aus den Händen. Die rauhen, feuchten Lippen. Die schwarzen Augen, in deren Winkeln Fliegen krabbeln. Greving tätschelt ihm die Wange. Der Geruch des Fells. Es fühlt sich samtig an, wie eine Bürste, wenn man gegen den Strich fährt. Greving setzt den Fuß auf die Eisenstange des Zauns und steigt hinauf, setzt sich auf die oberste Stange.
    So sollten Menschen Menschen werden, denkt er versonnen. In einer Herde groß werden. Ihre Individualität herausbilden. Weites Gelände und sich in Hainen verstecken. Blick hinaus in die Welt, zu der sie noch nicht gehören, vielleicht nie ganz gehören werden. Gang der Jahreszeiten. Die unschuldigen Jahre, bevor ihnen einer auf den Rücken steigt und es kein freies Dahingaloppieren mehr gibt. Leistungsprüfung. Besamung der Stuten. Verkauf an Ställe und Züchter.
    Statt dessen fängt das Unglück gerade in den Familien an, denkt Greving. Als freie Geschöpfe erschaffen, wenn das so einfach wäre! Freiheit unter der Obhut des Schöpfers. Das ist schon richtig. Nur haben wir nicht die richtige Weide, wie es scheint. So einen Park mit Hügeln und Hainen, die Hitze im Sommer, verdöst im Schatten der Wetterbäume, gefrorener Boden im Winter, wenn das Fell vor Wärme dampft. Unter wohlwollender Obhut, das wäre schön. Er schaut den dreien zu, wie sie davontraben und umeinandertollen.
    Jemand, der auf uns aufpaßt.
    Leider paßt niemand auf uns auf. Wir zwingen einander zu Leid, Schmerz, Verlust, töten einander, beenden einander das Leben, überlegt Greving, das wir nicht geschaffen und über das wir keine Verfügung haben. Wir haben kein Recht, einander hinzurichten. Richten kann nur der, der alles weiß. Der jede kleinste Regung kennt, jede Entschuldbarkeit, jede Bodenlosigkeit des Willens in einem bösen Moment. Nur der, der den Abgrund kennt, kann richten.
    Die Tiere da kennen das alles nicht. Sie leben zwischen Geburt und Tod und sind eingefügt in die Sterblichkeit. Sie kennen nicht die Herkunft der Sterblichkeit. Wir ahnen sie. Wir ahnen den Abgrund. Wir sollten es besser wissen, aber weil es unser Abgrund ist, wissen wir es nicht.
    Es hat gutgetan hierherzukommen, denkt Greving und atmet tief ein. Es tut gut, hier zu sitzen, die Beine baumeln zu lassen, einen Grashalm im Mund. Der Fall ist ihm längst zuwider. Aber die Landschaft, die Weite und Stille, das mähliche Treiben der Pferde – das hat die Anspannung gelöst. Vielleicht sollte ich in meinem Leben etwas ändern, denkt er.
    Näher ans Wesentliche kommen.
    Aus der Obhut heraus leben.
    Aber wie geht das?
    Es ist nur so eine Sehnsucht, wie man sie manchmal hat. In schwachen Momenten, wenn die Gedanken wegsacken in eine Tiefe und man nichts mehr in der Hand hat, wenn man erkennt, daß man nie etwas in der Hand gehabt hat. Das Leben ist größer als wir. Daß es uns gibt, ist größer als wir. Das verstehen wir nicht, denkt er und lächelt. Jemand hat uns gewollt, jemand hat gewollt, daß es all dies hier gibt. Und das rührt uns an, in Augenblicken wie diesen. Wir sehnen uns danach: nach einem aufgehobenen Leben.
    Langsam steigt er vom Zaun und wirft den Grashalm weg. Statt dessen muß man sich mit vergasten Behinderten und einem hingerichteten Nazi herumschlagen, denkt er.
    Das ist meine Arbeit. Das ist meine Aufgabe, und ich habe sie mir selber ausgesucht. Vielleicht ist es gut, was ich tue. Vielleicht hat es einen Sinn. Man kann aus seinem Leben nicht einfach aussteigen, an einem Aprilnachmittag draußen auf den Weiden, so wie man von einem Zaun heruntersteigt. Ein paar Schritte im Gras, zurück auf den Weg, und alles ist anders geworden.
    Ein neues Leben.
    Aber selbst ein neues Leben wird wieder ein altes. Es ändert sich nicht wirklich etwas. Die Welt ist, wie sie ist. Es geschehen immer die gleichen Dinge. Man kann sie anders ansehen, sie

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