Gran Reserva
diese Zeilen in seinem Kopf in Dauerschleife und ließen ihn sich fragen, welche Sorgen er gerne für immer verborgen sehen würde.
Diesmal war die Antwort leicht.
Die Wolkendecke sollte sich über sein ganzes Leben legen.
Und in Spanien, da wäre der Himmel ein anderer.
Bereits zum zweiten Mal fragte die Stewardess ihn, was er trinken wolle. Er kämpfte gegen den Drang, »Tomatensaft« zu antworten. Auf dem Boden trank er dieses Zeug niemals, warum hatte er also im Himmel plötzlich Lust darauf? Und warum ging es anderen genauso? Er schmeckte hier oben doch genauso wenig wie unten, und er schützte auch nicht vor Flugkrankheit. Tomaten waren dazu da, im Salat zu landen, in einer Soße oder auf einer Pizza. Aber doch nicht gepresst wie Äpfel oder Orangen. Wie hatte die Tomatensaftindustrie das nur geschafft? Vermutlich verkaufte sie neunundneunzig Prozent ihrer Produktion an Fluggesellschaften.
»Was darf ich Ihnen bringen?« Zum dritten Mal.
»Tomatensaft.«
Der Flughafen Bilbao lag versteckt zwischen grünen Hügeln, ein ganzes Stück von der Küste, der Ría de Bilbao entfernt. Das vom berühmten spanischen Architekten Santiago Calatrava entworfene Gebäude wirkte wie die Enklave eines verschollenen Elben-Volkes, seine eleganten Formen wie ein auf den Boden gesunkenes Segel, das kein Wind mehr aufblähte.
Max entschied sich für einen schwarzen Jeep als Mietwagen, obwohl er nicht vorhatte, querfeldein zu fahren, und diese Spritfresser aus ökologischem Blickwinkel rigoros ablehnte. Aber er wollte ein Nutzfahrzeug ohne Schnickschnack – und musste feststellen, dass Jeeps heute auch nicht mehr das sind, was sie mal waren. Sogar seinen MP3-Player konnte er anschließen, und so sang Mike Scott von den Waterboys »Sweet Dancer«, während die Landschaft immer karger, rauer und unbesiedelter wurde. Nicht zum ersten Mal fühlte er sich wie in einem Western, und Winnetou grüßend auf einer Hügelkette zu erspähen, hätte ihn in diesem Moment weniger verwundert als das McDonaldʼs-Werbeschild an der Autobahnausfahrt. Manchem mochte dieser Teil Spaniens schroff und unwirtlich erscheinen, doch Max faszinierte diese karge Schönheit. Er genoss den weiten Blick in die trockenen Täler und das dumpfe Röhren des Motors.
Irgendwann hielt er an einem Rastplatz, rauchte eine Zigarette, aß ein paar Tapas – frisch geschnittenen Schinken, eine Tortilla, ein paar Oliven –, trank dazu einen kühlen Weißen aus Rueda und begann darüber nachzudenken, wohin er eigentlich wollte. La Rioja, klar, aber auch da schlief man nicht einfach auf der Straße. Kleine Höhlen gäbe es hier in der Gegend zur Genüge, aber er war nicht zum Eremiten geschaffen, und bei aller Liebe zur Einfachheit waren warmes Wasser, elektrischer Strom und ein gefüllter Kühlschrank für Max doch unentbehrlich. Ein Hotel? Er blickte ans andere Ende der langen Theke, wo der Wirt mit einem weißbärtigen Lkw-Fahrer redete, während aus dem in der Ecke hängenden Fernseher ein Musikkanal ohrenbetäubend laut dudelte. Die beiden Männer schafften es mit ihrem Lachen, diesen noch zu übertönen.
Mit einem Mal wusste Max, wohin er fahren würde. Zu Juan Gil de Zámora. Eine völlig verrückte Idee, wahrscheinlich wohnte Juan schon lange nicht mehr in dem kleinen Örtchen Entrena, zwischen schier endlosen Weinbergen mit knorrigen Rebstöcken, dahinter die prachtvollen Ausläufer der Sierra de la Demanda.
Wo genau er Juan dort finden sollte, wusste Max nicht, doch die Beschreibung des Hauses hatte er nicht vergessen: Die Wände mit einer Farbe wie Ochsenblut gestrichen, ein Garten, in dem alles wuchern durfte, wie es wollte, und jede Katze, die den Weg dorthin fand und blieb, wurde ein Leben lang gefüttert. Max würde es einfach versuchen.
Er hatte ja Zeit. Alle Zeit der Welt. Nachdem die Welt ihm zuvor kaum eine freie Minute gegönnt hatte.
Ab jetzt würde das anders sein. Die Welt mochte sich nicht ändern, aber er schon.
Max hatte sich mit Juan immer gut verstanden, es hatte sich fast wie Blutsbrüderschaft angefühlt, und doch war der Kontakt schon vor über einem Jahrzehnt abgebrochen. Warum? Wer wusste das schon. Die Entfernung war nur ein schwacher Grund, im Zeitalter von Internet und Billigflügen war Distanz eine Illusion, und ein Flug von Köln nach Logroño, in die kleine Hauptstadt La Riojas, dauerte wenig länger als eine Fahrt nach Hannover.
Wenn er so darüber nachdachte, fragte er sich, warum er Hannover so oft La Rioja vorgezogen
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