Gran Reserva
Apokalypse käme. So war Max froh über jeden Tag, an dem er die sichtbaren Spuren der Domarbeiten wahrnahm. Alle paar Jahre wanderte das riesige Gerüst, das am Südturm hing wie ein metallener Vogelkasten, an eine andere Stelle. Viele verwünschten diesen Makel, doch für Max war er das Zeichen fürsorglicher Pflege. Er hatte ihn oft fotografiert – obwohl niemand ihm diese Fotos je abgekauft hatte.
Touristen strömten von der Domplatte ins Kirchenschiff wie ein riesiger Schwarm Fische – und genauso schnell wieder hinaus. Max glaubte nicht wirklich an Gott, und wenn es doch einen gab, glaubte dieser nicht an ihn. Sonst sähe sein Leben anders aus. Aber Max glaubte an Kerzen, und vor jeder Reise entzündete er eine Flamme. Meist schloss er nach dem Auflodern des Dochtes kurz die Augen, senkte den Kopf und bat um eine sichere Rückkehr.
Diesmal bat er nur um eine sichere Ankunft.
Dann tat er etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. Max warf noch mehr Geld in den metallenen Kasten unter dem Kerzenständer und griff sich ein zusätzliches Teelicht. Er wusste nicht, warum oder für wen er es anzündete, er sprach auch kein Gebet. In Sekundenbruchteilen fing die Kerze das Feuer der ersten und brannte sofort hell und hoch.
Als er den Dom verließ, berührte er zum Abschied mit der Hand das gewaltige Portal und verabschiedete sich, denn er hatte das Gefühl, niemals in seine Heimatstadt zurückzukehren. Aber Max wusste: Man konnte Köln verlassen, doch Köln verließ einen nie. Er wollte es auf einen Versuch ankommen lassen.
Dann griff er in die Sakkotasche, fischte sein Handy heraus und versenkte es im nächsten Mülleimer.
Es war Sonntag, der 17. September um 9 Uhr 26, als Max Rehme im Hauptbahnhof in den Zug nach Düsseldorf stieg, um von dort nach Bilbao zu fliegen, sich einen Wagen zu mieten und nach La Rioja zu reisen, ins Herz des spanischen Weinbaus.
Mit der Absicht, dort Wurzeln zu schlagen.
Metertief wie ein alter Rebstock.
Kapitel 1
1973 – Ein gutes Jahr, das eine ganze Anzahl charaktervoller Weine hervorbrachte. Zehn Prozent der Weine wurden Gran Reservas und trinken sich heute noch sehr angenehm.
Max hatte von Menschen gehört, die im Flieger das Gespräch mit ihren Sitznachbarn suchen. Er gehörte nicht dazu und hatte auch noch nie einen solchen kennengelernt. Zum Glück. Vielleicht weil man ihm ansah, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. Er setzte sich nie an den Gang, immer ans Fenster, die Faszination der bergigen Wolkenlandschaft hatte für ihn nie nachgelassen. Im Regen zu starten und über der Wolkendecke die Sonne an einem kristallblauen Himmel zu sehen, erschien ihm immer wieder wie ein Wunder. Und so war es auch heute. Der Mann neben ihm las den »Spiegel«, welcher mit dem spanischen König aufmachte, der in Russland gerade irgendein Wildtier erlegt hatte – einen Elch, einen Wolf oder einen Bär. Allerhand Tierschützer gingen dagegen auf die Barrikaden. Kein Wunder, war der König doch Ehrenpräsident des WWF. Das war, als würde man den Vorsitzenden von Amnesty International bei Fesselspielchen mit einer unfreiwilligen Sklavin erwischen. Die Dame am Gang, sicher sechzig, in einem schwarzen Dior-Kleid, die Haut glatt wie ein Kinderpopo, den Hals mittels eines Schals verdeckt, las die »Vogue«. Auf dem Titelbild Catherine Deneuve und ihre Tochter Chiara Mastroianni. Es war ein nettes Shooting gewesen, die zeitlose Schönheit, Eleganz und Würde, und der unwiderstehliche und scheinbar ebenso zeitlose Sex-Appeal Catherines, gegenüber der Energie und dem aufreizenden Witz ihrer Tochter. Sie hatten viel gelacht, Max hatte alles wie ein ungezwungenes Spiel erscheinen lassen, dabei war von vornherein klar, dass ein Coverbild herauskommen musste. Schließlich hatte er sie in ihren Lieblingskleidern in der Küche von Catherines Pariser Wohnung abgelichtet, Mehl in der Luft, vor den beiden ein dampfender Kuchen, Lachen.
Im Innenteil waren noch weitere Fotos von Max abgedruckt.
Sie zeigten Esther.
Er hatte es geschafft, sie hineinzubringen.
Weil sie schöner war als Catherine und ihre Tochter zusammen.
Und nun stand sie vermutlich in seiner leeren Wohnung und suchte nach ihm.
»Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein«, hieß es in Reinhard Meys Klassiker. »Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen, und dann wird, was einem groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.« Max hörte Reinhard Mey nicht. Doch wenn er flog, liefen
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