Granatsplitter
zu können. Der Existentialismus breitete sich allmählich auch auf sein Verständnis der neuen amerikanischen Literatur aus, die er zu lesen begann. Vor allem die Kurzgeschichten William Saroyans. Obwohl der optimistische Inhalt nicht seinem Lebensgefühl entsprach, mochte er den einfachen Tonfall. Mehr noch aber liebte er Thomas Wolfe. Thomas Wolfes Vom Tod zum Morgen verschlang er. Es wurde neben Hemingways Erzählungen sein Lieblingsbuch. Auch Wem die Stunde schlägt wurde wichtig, wegen der beiden zentralen Themen: des Kommunismus und der Liebe. Aber die Sprache von Oben in Michigan gefiel ihm besser.
Wenn sie den jungen Philosophieassistenten in der Stadt besuchten, kam der wieder auf Sartre und Heidegger zu sprechen. Er redete über einen Spruch von Anaximander, einem Philosophen vor Platon. Diesen Satz hatte Heidegger an den Anfang des letzten Kapitels von Holzwege gestellt. Der Satz wurde von Heidegger in zwei Übersetzungen zitiert, einmal der von Friedrich Nietzsche und einmal der eines namhaften Philologen, Hermann Diels. Der Satz lautete in der Übersetzung Nietzsches: »Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zugrunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.« Er war nicht besonders beeindruckt. Aber die Tatsache, dass sie das auch auf Griechisch lasen und der Satz dann eine dunkle Wahrheit ausstrahlte, beflügelte doch sein Interesse. Er merkte auch, dass er mehr in eine eigene Spekulation über die von dem ihm bis dahin unbekannten Anaximander gebrauchten Wörter verfiel, als dem zu folgen, was der Prophet dazu sagte. Dieser las mit ihnen natürlich nicht das ganze Kapitel, sondern benutzte es nur, um in möglichst einfacher, verständlicher Form Heideggers Verständnis des Satzes zu erklären. Es ging meist aber über das hinaus, was er verstehen konnte. Am anziehendsten war die Übersetzung einzelner griechischer Sätze, in denen vom Seienden die Rede war. Das übersetzte er sich selbst noch einmal in seinen eigenen Existentialismus. Er hatte nach wie vor die Vorstellung im Kopf, dass der Existentialismus und die Existentialisten nicht nur das Selbst gegen die Welt durchsetzten, dass Freiheit Stolz des Einzelnen heiße, sondern dass sie den Dingen näher seien, allen Dingen. Dinge aber wiederum hatten eine mythische Einfachheit.
Er war auf den Einfall gekommen, keine Schuhe zu tragen, sondern Sandalen ohne Strümpfe. Das schien ihm der Erde näher, und es sah auch irgendwie antik aus. Es entsprach auch keiner der gegenwärtigen Schuhformen. Außerdem war heißer Sommer. Adrian und Krümel sagte er von seinen inneren Bildern noch immer nichts. Er wusste genau, dass sie dafür zu praktisch dachten und ihn wahrscheinlich noch immer als idealistisch verspotten würden. Krümel hatte eine besonders feindselige Art allen Schulordnungen gegenüber angenommen. Sie sprachen über die hohe Art des Direktors, des ersten Helfers und dessen Freunden. Besonders darüber, dass diese keine Ahnung davon hätten, was in Menschen alles verborgen vorginge. Es blieben ja in jedem Gefühle verborgen, die allem widersprächen, was an Gesetzlichkeit und Moral offiziell verlangt und behauptet würde und von dem alle Wahrheiten der Schule abgeleitet würden.
Krümel las zu dieser Zeit die gerade bekannt gewordenen Bücher von Franz Kafka. Es stellte sich heraus, dass er selbst auch Geschichten schrieb, wobei Kafka sein Vorbild war. Er zeigte diese Geschichten aber keinem. Auf seinem Bücherbord standen schon zwei weitere neue Kafkabücher. Die habe er, ohne zu bezahlen, aus der guten Buchhandlung unten in der Stadt geholt. Gestohlen?, fragte er Krümel, um ganz sicher zu sein. Ja, gestohlen. Das sei ganz einfach, man müsse nur die Nerven behalten. Er solle mal mitkommen. Krümel – das gehörte zu seiner Taktik, unauffällig zu sein – trug ein weißes Hemd, keine Jacke, keine Tasche. So streiften sie für eine Weile zwischen den Bücherregalen und -tischen herum, jeder für sich alleine. Als sie wieder draußen waren, holte Krümel einen neuen Kafkaband aus seinem aufgeknöpften Hemd hervor, wie ein Zauberer. Er selbst fand das zwar beeindruckend, aber auch beunruhigend und fremd. Krümel war ein Krimineller geworden, ohne dass ihre Freundschaft darunter litt. Immerhin benahm er sich so, wie die meisten anderen Jungen sich nie benehmen würden. Und das war viel, wenn auch auf Kosten des
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