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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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in kurzen Hosen und Büstenhalter rauchend auf der Straße. Die Älteren hingen aus dem Fenster, ihre schweren Brüste entweder ganz oder halb entblößt auf dem Fensterbrett oder in kleinen Blumentöpfen. Die Älteren sahen eigentlich aus wie müde Arbeiterinnen oder Putzfrauen, keine Spur von Erotik. Er hatte seine erotischen Vorstellungen von Prostituierten bisher nur durch Bücher bilden können. Da war die wunderbare Erzählung von Flaubert namens Novembre , die er als Taschenbuch besaß. Auf dem Umschlag war das Bild eines gefühlvoll kühlen Mädchens zu sehen. Der Anblick der im rheinischen Tonfall daherredenden Frauen dagegen war für die Erwartung, die er aus Novembre hatte, eine Desillusion. Unmöglich, zu einer solchen Frau auf ihr Zimmer zu gehen. Und auch die Jüngeren auf der Straße hatten eine Art zu reden, die ihn endgültig abschreckte, das zu tun, was er sich fest vorgenommen hatte, nämlich endgültig die Angst davor zu überwinden und eine nackte Frau im Bett zu haben. Die Lust danach, die immer stärker geworden war, konnte so nicht befriedigt werden. Jedenfalls nicht in dieser Straße. Er musste sich etwas anderes ausdenken, wenn es denn kein Mädchen von der Schule sein konnte.
    Die Geschichte von der jungen Hure und dem Philosophen in der kleinen Pariser Straße blieb ihm vor Augen. Sie wurde ein Ansporn, so etwas auch zu erleben. Die ganze Idee von der sinnlichen Liebe wurde noch mehr aufgestachelt, als er und Adrian den Philosphen unten in der Universitätsstadt besuchten. Er hatte sie eingeladen, um mit ihnen weiter über die Existentialisten in Paris zu reden. Als sie in die unverschlossene Wohnung kamen, saß er im Bett mit zwei nackten Frauen, die ihre vollen Brüste frei über der Bettdecke ausgelegt hatten. Was für ein Anblick! Ihm verschlug es den Atem. Ohne Hemmung und Scham stellte der Philosophieassistent beide Frauen mit ihrem Vornamen vor. Waren das Huren? Nackt wie er war, begann der junge Lehrer über Heidegger zu sprechen. Er zeigte ihnen seine Übersetzung der Holzwege . In dem Wort steckte ja auch ein ganz sinnliches Bild. Der Lehrer erklärte ihnen den deutschen Titel, indem er die vorgesetzte Bemerkung Heideggers vorlas. Und dann erklärte er ihnen die Schwierigkeiten, ein solches Buch zu übersetzen. Chemin forestier. Schon das Wort »Holzwege« verlöre in der üblichen französischen Übersetzung seinen eigentlichen Sinn: nämlich was es bedeutet, auf einem Holzweg im Wald zu sein. Er habe den deutschen Titel deshalb mit dem Satz übersetzt »Chemins qui ne mèment nulle part«. Und diese Schwierigkeit gelte auch für eine ganze Reihe anderer Wörter und Begriffe. Der Philosoph zog sich später an, während die beiden Frauen in aller Ruhe weiter wortlos im Bett liegen blieben. Der Philosoph hatte tatsächlich einen mächtigen Schwanz und gutgeformte Hoden. Das konnte man gar nicht übersehen. Es wäre lächerlich gewesen, etwa wegzusehen. Im Café um die Ecke gab es keine weitere Bemerkung darüber, wer die Frauen seien. Der Junge dachte aber, wie unvorhersehbar und farbig das Leben sei. Man müsse nur Mut dazu haben. Hätte er den Mut dazu? Dieser junge Philosoph und die beiden nackten Frauen in seinem Bett waren ein Zeichen. Auch ein Zeichen des Existentialismus.
    Irgendwie hatte sich in der Schule herumgesprochen, worüber sie mit dem Philosophen redeten. Auch die Geschichte mit den beiden Frauen im Bett machte die Runde. Jedenfalls verabschiedete sich der Philosoph eines Tages von ihnen auf eine Weise, dass sie glauben mussten, ihm wäre vom Schuldirektor die weitere Unterrichtung untersagt worden. Das Verschwinden dieses prophetischen Menschen war wie das Erblicken eines leeren Raums. Das reizte seinen Widerspruch zum Internatsleben. Sein Ausscheiden aus dem Chor und der Zusammenstoß mit dem Referendar waren das eine. Das andere war, dass sich sein immer schon schwieriges Verhältnis zu dem Schuldirektor und dessen Pädagogik verschärfte.
    Der Schuldirektor hatte eine Reihe Schüler der beiden oberen Klassen, die er für interessiert hielt, eingeladen, einmal in der Woche in seinem Studierzimmer in dem uralten Bauernhaus unterhalb des Internatsgebäudes zusammenzukommen, um gemeinsam Platon zu lesen. Natürlich auf Griechisch. Der Junge war auch eingeladen, ging aber nicht hin. Das einzige Mal, dass er den Direktor über Platon hatte reden hören, hatte ihm ja nicht gefallen. Der Direktor hatte so getan, als ob seine eigene Art zu diskutieren letztlich

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