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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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hatte für sein Denken über die gegenwärtige Zeit eine aufregende und anregende Wirkung. Das Antike blieb erhalten. Die feindseligen Sätze der Elektra, dieser Hass, diese Worte des Hasses, diese Herabwürdigung der hohen Gestalten der Tragödie, des Vaters durch die Mutter, der Mutter durch Elektra selbst. Das war das eine. Aber es gab auch die anderen Sätze. Von Orest, dem großen Krieger, mit seinem Schicksal und seiner Jugend. Es gab noch immer das Schicksal der Atriden. Es gab noch immer die Angst. Wenn Elektra zu ihrem Bruder zum ersten Mal »Orest« sagt, hatte das einen pathetischen Klang, der aber schön war. Eine Mischung aus Schönheit und Schrecklichkeit. Elektra und Orestes waren schön. Selbst ihre blutige Tat änderte das nicht. Das hob sie heraus aus dem Alltäglichen der anderen Menschen, die nur litten. Ihre Einsamkeit und ihr Stolz waren der wichtigste Grund dafür, dass ihm das Drama so nahe ging. Sie zogen ihn als neue Gestalten der alten Mythologie an. Ja, das waren sie wohl. Noch immer war er glücklich, Spuren der griechischen Mythologie als Zeichen der Gegenwart zu entdecken. Griechische Mythologie und Existentialismus waren plötzlich für ihn dasselbe. Es war die Atmosphäre, die immer wieder beschrieben wurde bis zum grausam befreienden Ende. Die Örtlichkeit, auf der ein Bann lag, und die Wörter, vor allem des Orestes, die den Bann nicht fürchteten. Aber wäre der philosophische Lehrer mit dem Kinnbart nicht gewesen, hätte er die Fliegen gar nicht gelesen und auch nicht die Kraft einer Wahrheit für die Gegenwart empfunden. Denn der philosophische Lehrer führte ihnen mit allem, was und wie er es sagte, eine Unabhängigkeit des Denkens vor, die selbst der Griechischlehrer nicht an sich hatte. Denn auch dieser bezog sich immer nur auf Bücher, nicht aber auf das, was sie im Leben bedeuten könnten. Die übrigen, vor allem die Latein- und Griechischlehrer, waren sowieso ausschließlich gelehrte Menschen, die sich für das Leben nicht interessierten. Jedenfalls sprachen sie nicht darüber. Doch, der Direktor sprach vom Leben. Aber in einer besonderen, pädagogischen Weise, die ihm immer unsympathischer wurde. Als ob es ein Gesetz zu erfüllen gäbe. Das grenzte schon an die Selbstbestrafung der Kommunisten. Das Objektive sei wichtiger als das Subjektive. Der junge Philosoph aber überraschte sie immer wieder aufs neue und verführte sie dazu, alles, was ihnen von nun an geboten wurde, an dieser Überraschung zu messen. Dabei kam er auch auf die Liebe zu sprechen. Liebe hieß, den Körper der Frauen zu genießen. Der junge Lehrer wusste genau, dass keiner von ihnen bisher einem Mädchen zu nahe gekommen war. Seine Erziehungsreden, die sich immer mehr auf dieses Thema konzentrierten, wurden von ihnen mit ungläubigem Staunen aufgenommen. Er sagte immer wieder, man müsse die Liebe ganz physisch kennenlernen, am besten im Bordell. Diese verliebte Vorstellung von einem anmutigen Mädchen, ohne dass daraus etwas würde, das sei ganz schlecht für den Charakter. Das stachele die Phantasie zu falschen Vorstellungen an, die sich festsetzten. Der Philosoph hatte recht: Das war ja genau das, was er selbst schon seit Jahren machte: sich Frauen vorstellen, ohne jede Annäherung. Liebe war etwas Physisches. Gerade das Poetische an der Liebe war physisch. Das war ihm längst schon an den mythologischen Geschichten Ovids aufgefallen. Es ging so weit, dass die Begierde der Götter nach Menschenfrauen oder weiblichen Wesen jeder Art eigentlich immer auf Vergewaltigung hinauslief. Das wurde aber nicht etwa angeprangert. Nein, in die Gewalttat mischte sich etwas Poetisches. Weil es Götter waren? Es war jedenfalls das Gegenteil des Poetischen von Minnesangs Frühling , wo die verliebten Männer nur Sehnsüchte ausdrückten.
    Eines Tages erzählte der Philosoph ihnen eine ganz unglaubliche Geschichte von sich und einer Pariser Hure. Sie sei eine wunderschöne und intelligente Frau gewesen, und deshalb habe er sich immer wieder mit ihr getroffen. Diese Hure sei auf den Einfall gekommen, ihn am Schwanz hinter sich herzuziehen durch die kleine Straße bis in ihre Wohnung. Das sei die wahre Liebe. Der Junge war zutiefst beeindruckt.
    Er selbst hatte es nie gewagt, während der Ferien die Bordellstraße im alten Zentrum seiner Vaterstadt auch nur zu betreten. Den Namen dieser Straße kannte jeder. Er war immer wieder an ihren Eingang gegangen, von dem aus man die Frauen gut sehen konnte. Die Jüngeren standen

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