Granatsplitter
wieder am Unterricht teilnahm. Er versuchte mit allen Mitteln, sein Selbstbewusstsein anzuknacksen. Ihre gegenseitige Abneigung kannte keine Grenzen. Es hatte etwas von einer grausamen Verfolgungsjagd. Als er schließlich zur Empörung des Direktors, aber mit großer Zustimmung von dessen Frau den modernen Herodes im altehrwürdigen Weihnachtsspiel gespielt hatte und auch der ernste Geschichtslehrer Bedenken äußerte, war der einzige Lichtblick vor dem Abitur im Frühjahr 53 wieder die Witwe des 20.-Juli-Verschwörers. Sie schenkte ihm direkt nach dem umstrittenen Herodesauftritt ein Buch des spanischen Philosophen Ortega y Gasset mit dem Titel Über die Liebe . Sie hatte sich vom Urteil des immer ernster gewordenen Geschichtslehrers und des noch ernster sich gebenden Direktors nicht beeinflussen lassen. Sie hatte etwas sehr Freies, das spürte er jedes Mal, sie stand über eingefleischten Überzeugungen. Wie sie lachen konnte! Das Lachen eines, wie er fand, ganz unabhängigen Menschen. Nur der alte Griechischlehrer und der Prophet mit dem Kinnbart hatten eine ähnliche unabhängige Art des Denkens und Redens.
Drei Monate später machten sie zu siebt das Abitur: Feo, Eberhard, Alex, Martin, Mopsi, Jophi und er. Jophi war im letzten Jahr dazugekommen. Er war, wie Adrian, aus disziplinarischen Gründen aus seiner Schule herausgeflogen und nahm jetzt sozusagen Adrians Platz ein. Auch als neuer Freund, obwohl er ungeheuer wohlerzogen wirkte. Trotzdem ein wagemutiger Typ, leichten Herzens und glänzend in den Naturwissenschaften. Er wollte Architektur studieren und ein wirklich künstlerischer Baumeister werden. Jophi konnte Adrian nicht ersetzen, aber doch etwas vergessen machen. Adrian hatte schon eine Woche früher in seinem neuen Gymnasium unten in der Universitätsstadt das Abitur hinter sich gebracht. Er selbst schrieb fast widerwillig den Deutschaufsatz, den die zentrale Schulbehörde gestellt hatte. Ein irgendwie banales Thema über Goethes Faust , ein Besinnungsthema der alten Sorte, aber die beiden anderen nichtliterarischen Themen waren es noch mehr. Er erhielt 18 Punkte dafür und den Scheffel-Preis. Mit dem Namen des Verfassers des Trompeters von Säckingen zeichneten die badischen Schulbehörden den jeweils besten Aufsatz aus, sofern er die Note »gut« überstieg.
Von heute auf morgen veränderte sich sein Leben, als er die Schule für immer verlassen hatte. Die Universität Köln war anders, als er erwartet hatte. Oder lag das wieder nur an ihm und seiner Stimmung? Plötzlich gab es nicht mehr die altgriechische Landschaft, nicht mehr den symmetrischen Garten, nicht mehr das alte Haupthaus mit seinen römischen Säulen und den Zimmern mit der holzgetäfelten Decke. Darauf war er nicht vorbereitet. Das neue Haus des Vaters – es war ein altes Haus, das der Vater kürzlich gekauft hatte, von dem der Junge jetzt, einen Monat nach dem Abitur, täglich in die Universität fuhr – war zwar geräumig, auch sehr altmodisch, ganz nach seinem Geschmack. Es lag aber nicht im Süden der Stadt, woher die Familie kam und wo die im Krieg zerstörten Häuser der Urgroßmutter und des Großonkels gelegen hatten. Es lag im Norden am Botanischen Garten, eine Gegend, die er nicht mochte. Sein eigenes Zimmer hatte er mit modernen Kunstplakaten tapeziert, aber eine große Leere hatte sich um ihn ausgebreitet. Dagegen half auch nicht, dass er die alte Büchse mit den Granatsplittern in eines der Bücherregale stellte. Er hatte sie vor Jahren in der Wohnung der Mutter gelassen und fast vergessen. Die Granatsplitter waren jetzt nur noch ein seltsames Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit, ohne ihre alte Wirkung auf ihn. Trotzdem wollte er sie behalten. Immerhin hatten sie noch immer eine Bedeutung für ihn und wirkten wie eine Art Aufforderung, etwas Ähnliches, Gleichwertiges zu finden.
Er kannte keinen Gleichaltrigen in der Stadt. Das hatte sich in den vielen Ferien der sechs Jahre, in denen er im Internat gewesen war, nie ergeben. Der Wunsch, in Heidelberg zu studieren, wo jetzt Adrian und Krümel in einer Wohnung hausten, der eine als Student der Politologie und Nationalökonomie, der andere als Abiturient, dieser Wunsch hatte sich vorerst nicht erfüllt. Der Vater hatte ein striktes Veto eingelegt, weil er fürchtete, die Freundschaft zwischen ihm und diesen beiden Freunden wirke sich ungünstig auf seine weitere Entwicklung aus. So lange er vom Geld des Vaters abhängig war – staatliche Unterstützung konnte er
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