Granatsplitter
Grund einen Mord begeht, sozusagen als philosophisch-psychologisches Experiment, das war von erregender Amoralität. Aber eben eine Amoralität, die den einzelnen, der dies vollbringt, von allen anderen unterscheidet. Die Isolation dieses Täters von allen Moralgesetzen faszinierte ihn. Adrian dagegen hatte bei Dostojewski eine andere Entdeckung gemacht. Adrian tat so, als ob man ohne tieferes Verständnis dieses Romans und dieses Fürsten Myschkin kein wirklich geistiger Mensch werden könne.
Er war gerade dabei, den schwierigen schönen letzten Monolog des Oberon in seinem Zimmer zu üben – eine Woche vor der Aufführung des Sommernachtstraums und ihrer Versetzung in die Oberprima im Juli 52 –, da öffnete sich nach kurzem Klopfen die Tür und Adrian trat zusammen mit Krümel ins Zimmer. Etwas herablassend nahmen sie sein Rollenspiel wahr, dessen letzte Worte sie mitbekommen hatten. Sie übergaben ihm einen Brief. Den solle er am nächsten Morgen der Regisseurin geben, sobald sie hinter der Grenze nach Frankreich seien. Ja, sie würden per Anhalter nach Paris fahren und dort ins Bordell gehen. Adrian und Krümel machten sogar einen Versuch, ihn zum Mitkommen zu bewegen. Sie sahen darin, das spürte er deutlich, einen existentialistischen Akt, die wahre Probe aufs Exempel. Krümel hatte sich innerlich sowieso längst abgewandt vom Schulbetrieb. Aber auch Adrian war offenbar dabei, die Schulordnung zu brechen, zumal das in keinem Widerspruch zu seiner Dostojewskineigung stand. Würde er selbst mitfahren? Er geriet tatsächlich von einer Minute zur anderen in einen ernsten Konflikt. Nach allem, was sie seit einem Jahr gedacht und geredet und gelebt hatten, war der Gedanke eines solchen Bruchs der Schuldordnung eigentlich die richtige Konsequenz. Es war ja gar nicht gesagt, dass sie nach drei Tagen nicht wiederkämen. Ohnehin lag ein Wochenende vor ihnen, also handelte es sich eigentlich nur um eine unerlaubte Entfernung von der Schule.
Es war letztlich die Oberonrolle, die ihn nicht mitfahren ließ. Nach dem Skandal mit dem Chor war ein weiterer Zwischenfall solcher Art undenkbar. Es hatte auch mit der Regisseurin zu tun, die beim Sommernachtstraum wieder dabei war. Sein plötzliches Verschwinden würde die ganze Aufführung in Gefahr bringen. Es wäre rücksichtslos gegenüber den anderen Mitspielern. Er dachte vor allem an den Puck, der von Uli, dem jüngeren Bruder Konrads, gespielt wurde, mit dem er zusammen in einem Zimmer wohnte und den er wegen seines raschen Witzes und seiner Klugheit besonders gerne hatte. Nein, es war ausgeschlossen, dass er mitfuhr.
So übergaben ihm Adrian und Krümel kühl den geschlossenen Brief und verschwanden. Am Montag gab es dann abermals eine jener Schulversammlungen, bei der der Direktor eine jener moralischen Ansprachen hielt, die ihn am Anfang so beeindruckt hatten. Es konnte keine Rede davon sein, dass Adrian und Krümel wiederkommen durften. Sie wurden in einer Art Bannfluch aus der Schulgemeinschaft verstoßen. Auch er selbst wurde dabei namentlich erwähnt, weil er zu dieser Clique von Unreifen gehöre, die sich von falscher Literatur verführen ließen. Alle Untaten wurden minutiös aufgeführt. Aber damit sei nun ein für allemal Schluss.
So geschah es. Adrian und Krümel kamen eine Woche später nur noch vorbei, um ihre Koffer zu holen. Adrian wechselte in die Oberprima des Gymnasiums der Universitätsstadt. Krümel improvisierte. Ob sie tatsächlich im Bordell gelandet waren? Mit Adrian und Krümel hatte er seine nächsten Vertrauten verloren. Er spürte eine große Isolation. Der Sommernachtstraum war das Ende seines Glücks auf der Schule. Der neue Griechischlehrer, mit dem ihn eine tiefe wechselseitige Abneigung verband, sagte schon nach der zweiten Stunde, er könne dem Unterricht fernbleiben, wenn er Lust dazu verspüre. Offenbar leistete sich dieser die vor der ganzen Klasse ausgesprochene Zurückweisung, weil er bisher immer mit die besten Noten hatte und das Risiko eines Leistungsabfalls gering sein würde. Der neue Lehrer hatte ihm ja nicht verboten, anwesend zu sein, sondern nur nahegelegt, es nicht zu sein. Er blieb tatsächlich einen Monat dem Griechischunterricht fern. Dann kam es heraus, und er wurde von dem um ihn besorgten Geschichts- und Deutschlehrer aufgefordert, sofort wieder teilzunehmen. Der neue Griechischlehrer kannte schon das Schuldkonto des Jungen. Er hätte längst hinausfliegen müssen, sagte er ihm persönlich ins Gesicht, als er
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