Granatsplitter
Gesetzes.
Adrian äußerte sich nicht direkt zu Krümels Diebstählen. Wenn er Kritik andeutete, war es nicht die Moral, sondern die Vernunft, die sprach. Vielleicht aber auch beides zusammen. Das hatte sich ja schon gezeigt, als Adrian zum Helfer des Schülergerichts gewählt worden war. Da galt es, nach Kriterien der Gerechtigkeit, nicht mit Gefühl, über Mitschüler zu befinden. Man durfte an diesen Verhandlungen teilnehmen, auch wenn man nicht selbst beteiligt war. Sie waren öffentlich. Dem Jungen gingen Adrians ernste Miene und ausgezeichnete Rede sofort gegen den Strich. Man bekam eigentlich das Gegenteil von dem zu hören, was sie bisher gedacht und miteinander besprochen hatten. Adrian war plötzlich der Anwalt des Schulgesetzes, der den subjektiven Faktor, warum und wie jemand etwas Gesetzwidriges gemacht hatte, ganz klein schrieb, und den Gesetzesbruch als solchen ganz groß. Er schien geradezu eine Freude daran zu haben, Recht sprechen zu dürfen. Wie ein autoritärer Richter saß er da und verkündete mit unverhohlener Eitelkeit und einem ausgeprägten Willen zur Ordnung, was er für Recht hielt. Krümel kam nicht vor seinen Richterstuhl.
Als er selbst vor Adrians Gericht zu erscheinen hatte, wurde ihm dessen Gehabe wirklich zuwider. Der Grund dafür, dass er als Angeklagter dastand, war der Zusammenstoß mit einem neuangekommenen Schüler seiner Klasse. Das war ein pikfeiner Junge in Knickerbockern aus Bremen, Kaffeeimport. Lutz-Melchior bekam im Unterschied zu den meisten fast jede Woche ein Päckchen mit besonders feinen Sachen zu essen, die er vom Schulpostamt ängstlich in sein Zimmer trug und möglichst unbeobachtet aufaß. Als ihm Lutz-Melchior wieder einmal mit einem Päckchen, diesmal war es ein Körbchen mit Erdbeeren, auf seinem Wege durch den Gartenhof begegnete, verwickelte er ihn in ein Gespräch über den süßen Inhalt des Päckchens. Sein Besitzer, ängstlich und empört zugleich, drohte sofort mit einem Hauserwachsenen. Du willst mit einer Anzeige drohen? Er verpasste ihm einen Stoß, und als der Erdbeerjunge noch förmlicher drohte, einen zweiten, und dabei fiel das Erdbeerkörbchen auf den Boden, und alle Erdbeeren lagen rundherum zerstreut. Er schlug dem fassungslos Dastehenden vor, die Erdbeeren einzusammeln und gemeinsam zu verspeisen. Am nächsten Tag teilte ihm Adrian mit, er habe sich vor dem Schülergericht zu verantworten. Immerhin war die Petze nicht zu einem Hauserwachsenen gelaufen. Die Gerichtsverhandlung verlief so, wie es Adrians Willen entsprach: Der Kläger erhielt Recht, über die Gründe, warum der Junge den anderen gestoßen hatte, wurde kein Wort verloren. Die Strafe lautete, dass er am nächsten Sonntag früh morgens, wenn alle anderen noch schliefen, mit einem anderen Bestraften auf dem Leiterwagen die Milchkannen aus dem Dorf holen musste. Dieser Zwischenfall hatte nicht zur Folge, dass Adrian und er ihre Freundschaft beendeten, im Gegenteil, eine höhere Stufe der Freundschaft wurde angestrebt. Sie wussten inzwischen, dass es große Unterschiede in ihrem Denken gab. Adrians Verhalten imponierte ihm in gewisser Weise sogar. Er bewunderte seine Sachlichkeit. Wahrscheinlich fand Adrian das pikfeine Benehmen des Bremers genauso lächerlich wie er. Adrians Lust am Unerlaubten, Fremden hätte vielleicht auch das Erdbeerkörbchen nicht geschont. Vor allem das, was ihn so herausgefordert hatte, was ihm ehrpusselig vorkam, hätte Adrian auch herausfordern können. Aber bei Adrian hatte das nicht zur Folge, die Gesetze zu vergessen. Seine Fähigkeit, unabhängig von persönlichen Emotionen eine Sache zu analysieren, das imponierte ihm. Bei ihm selbst war ja bei jeder Erkenntnis die Emotion mit im Spiel. Er glaubte auch weiterhin, dass solche Emotionen gerade auch beim Erkennen von etwas eine entscheidende Rolle spielen würden. Aber der Respekt für Adrian war groß.
Der Respekt wuchs sogar noch. Adrian hatte seit einiger Zeit eine geheimnisvolle Miene aufgesetzt. So geheimnisvoll, dass er ihn fragte, was eigentlich los sei. Daraufhin ging Adrian mit ihm in sein Zimmer und wies mit der Hand auf ein dickes dunkelrot gebundenes Buch. Es war von Dostojewski, und sein Titel hieß Der Idiot . Er selbst hatte bisher noch nichts von Dostojewski gelesen und kannte nur zwei seiner Romane dem Namen nach, Schuld und Sühne und Die Brüder Karamasow . Von Schuld und Sühne kannte er allerdings das Thema, das ihn schon immer sehr gefesselt hatte: dass jemand ohne eigentlichen
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