Granatsplitter
unwiderlegbar sei, weil er sich der platonischen Methode bediene. Er benutzte das Wort »Dialektik«. Der Junge misstraute der Behauptung, eine Beweisführung könne unbestritten zu Ende gehen, wenn jeder einzelne Schritt logisch geprüft würde. Dagegen erhob sich der Einwand, es gebe ja auch plötzliche Einfälle, die ohne solche Vorbereitung gedanklich weiterführten. Mehr aber noch störte ihn die hochmütig wirkende Art des Direktors. Dessen Sprache selbst schon störte ihn. Er hatte keine Lust, sich das anzuhören. Seit den Reden und Gesprächen über die Existentialisten war ihm dieser hohe Tonfall des Direktors regelrecht zuwider. Alex und auch Adrian gingen manchmal hin, Feo war immer da. Doch, es sei interessant, berichtete Alex, und er war sich mit einem Male unsicher, ob er denn nicht doch etwas verpasse. Eine positive Entscheidung wurde ihm aber durch einen weiteren Vorfall unmöglich gemacht.
Er hatte sich bei einem Schüler der Klasse unter ihm den Roman Die Haut des italienischen Schriftstellers Malaparte ausgeliehen. Das war eine ähnlich spannende geistige Erfahrung wie das Thema des Existentialismus. Nachdem er das Buch zurückgegeben hatte, behauptete sein Besitzer, es fehle eine bestimmte Seite. Und zwar die Seite, auf der geschildert wird, wie auf einer Straße Neapels amerikanische Negersoldaten italienischen Prostituierten unter den Rock fassen und diese es sich gerne gefallen lassen. Diese Seite sei verschwunden, und er, der letzte, der das Buch gelesen habe, habe diese Seite offenbar aus besonderem Interesse für sich herausgelöst. Er wurde zum Direktor bestellt. Statt über Platon zu reden, forderte dieser ihn auf, doch zu bekennen, dass er diese besondere Seite herausgerissen habe. Nachdem er verneinte, erwiderte der Direktor, er solle darüber nachdenken. Fortan solle er jede Woche einmal zu ihm in sein Denkzimmer kommen und die Frage erneut beantworten.
Das gab den letzten Anstoß. Unter diesen Umständen war es für ihn ganz ausgeschlossen, an den Platongesprächen teilzunehmen. Es machte ihm sogar eine gewisse Freude, jede Woche einmal das Studierzimmer des Direktors zu betreten, nur um zu sagen, dass er die Seite nicht rausgerissen habe. Wenn er dann dem Direktor frei ins Gesicht sah, empfand er wieder die alte Anziehung. Von Augen und Mund ging eine gleichzeitig so beunruhigende wie beruhigende Wirkung aus. Beunruhigend wegen des forschenden, suchenden Ausdrucks. Nicht nur nach einem Geheimnis, sondern überhaupt nach allen Geheimnissen. Beruhigend wegen des absolut seiner selbst sicheren Benehmens. Es war ein außerordentlicher Mann, das wurde ihm wieder klar. Aber er blieb bei seiner inneren Ablehnung und ihren Gründen.
Natürlich sprach er darüber mit seinen Klassenkameraden. Es wäre doch irgendwie verständlich, dass er die Hurenseite aus Die Haut nach den Existentialistengesprächen so interessant gefunden hätte. Er solle es doch zugeben. Das war nicht böse gemeint, sondern kameradschaftlich. Manche Mitschüler redeten genauso wie der Direktor. Es war abstoßend für ihn. In ihm wuchs eine Verachtung gegenüber diesem immer mit sich einverstandenen Mann. Die ursprüngliche Bewunderung, die er gerade für den hohen Tonfall so lange gehabt hatte, verkehrte sich in ihr Gegenteil. Daran änderte auch das gedankenvoll tiefe Gesichts nichts. Es war aus. Aus mit Platon, aus mit den Schulgesetzen, aus mit den feinen Mitschülern, die immer an ihrem Ring drehten. Er redete darüber mit dem Griechischlehrer und der Witwe. Sie vor allem war ganz auf seiner Seite, obwohl sie mit dem Schuldirektor und seiner Frau eine Freundschaft verband. Sie verstand seine kalte Wut. Noch bevor das Trimester zu Ende ging und die Versetzung in die Oberprima bevorstand, sagte ihm der Direktor, er brauche nicht mehr in seine Studierstube zu kommen. Er ahnte nicht, dass es das letzte Mal war, dass er mit dem Schuldirektor alleine gesprochen hatte.
Es begann eine Zeit der Erwartung und der großen Veränderung. Das betraf vor allem sein Verhältnis zu Adrian. Sie beide hatten sich angefreundet mit einem neuangekommenen Schüler. Er hieß Siegfried, sie nannten ihn aber Krümel. Nicht nur, weil er das Gegenteil von jedem Siegfried war, eher klein, dunkel und witzig, sondern weil das Wort »Krümel« so etwas wie die Verballhornung seines Familiennamens darstellte. Krümel war sich einig mit ihnen, dem edlen Gehabe mancher Schüler und Lehrer, den Schulgesetzen und vor allem dem Direktor nicht zustimmen
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