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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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nicht erwarten und sein Studiengeld von zirka 250 Mark im Monat konnte oder wollte er selbst nicht erarbeiten –, so lange blieb ihm nichts anderes übrig, als nicht gegen den Wunsch des Vaters zu handeln. Es war nicht ausgemacht, an der Heimatuniversität zu bleiben. Es standen schon andere Namen auf dem Programm. Aber Heidelberg durfte es nicht sein.
    Warum die Kölner Universität ihm nicht behagte, hatte vielfältige Gründe. Er war mit der Selbstsicherheit der alten Schule hinter sich in die Hörsäle für Geschichte, Philosophie und Germanistik gegangen. Dort traf er auf gleichaltrige Erst- und Zweitsemestrige, von denen einige das große Wort schwangen, zu diesem oder jenem Thema. Besonders einer fiel ihm auf, der sehr überlegen und ziemlich unverständlich über Jean-Paul Sartre redete. Der Großsprecher hatte alle einschlägigen Vokabeln zur Verfügung. Dagegen konnte er selbst, mit seiner etwas verträumten, äußerst subjektiven Lesart, nicht an. Da half ihm auch nicht die Erinnerung an die Gespräche mit dem Assistenten von Heidegger. Es war nicht so, dass er nichts zu sagen gewusst hätte. Aber diese informierte Rederei eines Studenten, der gerade wie er an einem humanistischen Gymnasium der Vaterstadt Abitur gemacht hatte, setzte ihn schachmatt. War es auch die großstädtische Mundfertigkeit, das Balancieren mit allen Termini, die er nicht gewohnt war? Ein zündendes Wort folgte dem anderen. Es war keine Charakteristik Sartres, nicht einmal eine Analyse irgendeines Satzes oder Stücks. Es war ganz einfach eine Riesenkenntnis von allem. Als er hörte, dass dieser Sartre-Kenner gelegentlich schon für das Feuilleton der wichtigsten hiesigen Zeitung schrieb, gab er alle Hoffnung auf, hier bald eine Rolle spielen zu können, die seiner würdig gewesen wäre.
    Auch die andere Begegnung der ersten Tage war einschüchternd. Er wurde in der Mensa plötzlich von einem jungen Mann mit Baskenmütze, rotem Schal und über die Schultern geworfenem Regenmantel angesprochen und gefragt, was er so mache. Auf seine zögernde Antwort, er wisse es noch nicht genau, sagte der Student mit der Baskenmütze, er heiße Jürgen Becker und studiere Theaterwissenschaften. Das war nach dem Sartre-Reinfall immerhin eine zweite Möglichkeit, Anschluss zu finden. Aber dann tauchte eine auffällig modische junge Frau auf, die keine Studentin mehr zu sein schien, hakte sich bei dem Theaterstudenten ein und zog ihn mit sich fort. Er ging tatsächlich, wie abgemacht, in das nächste Seminar des bekannten Professors für Theaterwissenschaften, wo es um alte Masken ging. Alle waren höhere Semester als er, kannten sich gut, redeten viel, und der Professor mitten unter ihnen. Was sollte er da? Maskengeschichte war nicht das, was er hören wollte. Es war wieder das ihm fremde, bedrückende Milieu. Zwar Theater, aber ohne Laurence Olivier als Heinrich V. Nichts Erhabenes, nichts Erhebendes.
    Zu diesen beiden ersten Enttäuschungen kam die Enttäuschung im Hörsaal. Ein Professor Heimsoeth sprach über Kants Kritik der reinen Vernunft , der andere, Professor Volkmann-Schluck, über Heideggers Sein und Zeit . Dieser erwähnte auch häufig Nietzsche. Die Heimsoeth-Vorlesung war von einer väterlichen Umsicht und Klarheit getragen. Kants Kategorien wurden vor der bis dato herrschenden Erkenntniskritik der englischen Philosophen Hume und Locke dargestellt. Die Volkmann-Schluck-Vorlesung war dagegen eine Art Gewitter aus plötzlich wirkenden Einsichten. Professor Heimsoeth trug einen einfachen, einfarbig braunen, altmodisch geschnittenen Anzug mit Krawatte. Professor Volkmann-Schluck, mächtig schon als Gestalt, trug dagegen in eleganter weißer Jacke und weißer Hose etwas dick auf. In beiden Vorlesungen fiel auch der Name Hegel und dessen Werk Die Phänomenologie des Geistes . Er bekam den Eindruck, dass dieses Werk das Alpha und Omega der ganzen modernen Philosophie sei und kaufte es sich deshalb in einer billigen Ausgabe in der Universitätsbuchhandlung nahe dem Aachener Weiher. Damit legte er sich in die Maisonne, auf die Wiese vor dem Hauptgebäude der Universität und versuchte herauszukriegen, warum dieses Buch denn so berühmt war. Er verstand kein Wort. Aus der Einleitung lernte er immerhin, dass Hegel selber glaubte, dass in Zukunft keiner mehr Philosophie betreiben könne, ohne seine Gedanken zu kennen. Umso mehr verzweifelte er an den folgenden Kapiteln. Schon die Unterscheidung zwischen Objektivem und Subjektivem trieb ihm eine Art

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