Granatsplitter
psychischen Schweiß auf die Stirn. Denn er erkannte jetzt einerseits, wie ungeheuer wichtig es war, diesen Philosophen rundherum gelesen und verstanden zu haben, andererseits fühlte er seine eigene Subjektivität nun endgültig in Frage gestellt. Als er einen älteren Studenten der Philosophie um Hilfe angehen wollte, meinte dieser lachend: Das wäre viel zu früh. Das müsse er in einem späteren Seminar unter der Anleitung eines Professors zu verstehen versuchen. So, ohne systematische Hilfe, ginge das nicht. Er solle besser Hume und Locke lesen. Dazu gehöre nur Logik, noch keine spekulative Phantasie.
Diese Auskunft war eine kalte Dusche. Nein, er wollte Hegel verstehen. Da dies offenbar nicht sofort möglich war, konzentrierte er sich auf die Themen der Germanistik. Da war ein Professor Langen, der über den pietistischen Wortschatz sprach. Das klang irgendwie vertraut, denn der interessante Griechischlehrer hatte sie ja schon damit bekannt gemacht, inwiefern die dichterische Sprache aus traditionsreichen Wörtern bestehe. Aber es langweilte ihn. In einem Seminar über das Motiv der Stille bei Stifter erging es ihm nicht besser. Die Referate, die ausgegeben wurden, hörten sich schrecklich an, sehr nach »Hand aufs Buch«. Er konnte sich nicht vorstellen, sich jemals an diesen frommen Tonfall zu gewöhnen. Dann aber kam eine Erleuchtung, und zwar in der Gestalt des Professors Richard Alewyn. Dessen Vorlesung handelte von der Lyrik des Barock, von der er eigentlich noch nie etwas gehört hatte. Professor Alewyn kam immer drei Minuten später, als es die akademische Zeit vorschrieb. Er hatte eine Art Tennisdress an, weiße Hose, weißes Hemd und weißen Wollpullover mit Ausschnitt. Gleichzeitig trug er eine rote Fliege. Er kam mit einem federnden Schritt, zuweilen die beiden Stufen zum Katheder mit einem einzigen Sprung nehmend, und setzte nach einem musternden, kritischen Blick in den vollbesetzten großen Hörsaal sofort zu sprechen an. Er las nicht einfach ab, er schien keine ausgearbeitete Vorlesung vor sich zu haben, sondern Zettel, die er mit beiden Händen jeweils aufnahm oder ertastete, immer wieder den kritischen Blick auf die Studenten gerichtet.
Seit dem Tag, als er Professor Alewyn, der aus der Emigration in die USA zurückgekommen war, gesehen und gehört hatte, ging es ihm besser. Endlich eine Aussicht! Das erinnerte ihn sehr an die Atmosphäre im Deutschunterricht damals oben im altgriechischen Elysium. Die Erinnerung an die Schule hatte sich tief in ihm eingegraben. Alles, was er nun erlebte, wurde mit ihr verglichen und bestand nur selten vor der Erinnerung. Es fehlten ihm nicht nur die beiden Freunde. Es fehlten auch der ernste Geschichtslehrer und vor allem die Witwe. Sie in den Semesterferien im Süden zu besuchen, wäre nur möglich, wenn er sich Geld dazu verdiente, zum Beispiel auf dem Bau. Um seinen Vater zu überraschen, nahm er eine Arbeit an. Aber nachdem ihn die Bauarbeiter eine Woche lang schikaniert hatten, indem sie ihm immer die schwersten Sandsäcke auflegten, sodass er einmal fast vom Gerüst gestürzt wäre, gab er auf. Er konnte auch nicht ertragen, dass er sich, wenn er in der Pause mit der Thermosflasche und einem Wurstbrot in die Holzbaracke kam, dreckige Witze anhören musste. Er empfand das als Niederlage, die irgendwie wieder ausgewetzt werden musste. Deswegen war er überrascht und angezogen von einer Anzeige auf dem schwarzen Brett der Universität, auf der europäische Studenten für die Ernte in England gesucht wurden. Der Verdienst, 12 Pfund die Woche, zuerst auf den Apfelplantagen von Kent und dann in den Kartoffeln von Lincolnshire. Das klang gut. Er meldete sich sofort für die Reise im September nach Dover an.
Das Sommersemester 1953 hatte er bald hinter sich. Obwohl nicht nur Professor Alewyns Vorlesungen über das Barock, sondern auch eine Geschichtsvorlesung von Professor Schieder über Bismarck ihn weiterhin fesselten, sodass er keine versäumte, gab es keine Kontakte mit Studenten mehr. In diesem Frühjahr war für den neuen Bundestag gewählt worden. Der Vater, der eigentlich mit der liberalen Partei sympathisierte, hatte diesmal die Partei des Kanzlers gewählt, weil er und seine Frau seit dem Studium mit einer Tochter desselben befreundet waren. Hinzu kam, dass der Vater radikalsozialistische Propaganda gegen die sogenannte neue Marktwirtschaft gehört hatte, von der er glaubte, dass diese von ihm selbst und seinen Universitätskollegen sozusagen
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