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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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schon im letzten Kriegsjahr erfunden worden war, gestützt auf die Lehre von Röpke und Müller-Armack. Er selbst konnte aus Altersgründen noch nicht wählen. Vielleicht hätte er es auch nicht getan, wenn er wahlberechtigt gewesen wäre. Zu viele andere Dinge gingen ihm durch den Kopf, und des Vaters ökonomische Argumente bei jedem politischen Urteil passten ihm auch nicht. Die Sozialdemokraten hätte er nicht gewählt. Deren Sprache klang ihm fremd. Mit der individuellen Freiheit schienen sie nicht viel am Hut zu haben. Es ging immer um das Wohlergehen von allen. Wogegen nichts einzuwenden war, solange der Einzelne nicht auf der Strecke blieb.
    Im übrigen versuchte er, seine alten Gänge durch die noch unverbauten Teile der Südstadt wieder aufzunehmen und in Antiquariaten nach interessanten Büchern zu suchen. So fand er eine Erstausgabe von Friedrich Schleiermachers Übersetzung der Werke Platons aus dem Jahre 1807. Jetzt, da die Platonschule hinter ihm lag und er sich nicht mehr mit dem Direktor innerlich auseinandersetzen musste, fühlte er sich aufgefordert, Platons Philosophie doch wieder zu lesen und zu verstehen. Vielleicht existentialistisch? Außerdem kaufte er sich eine alte Ausgabe der Werke Grillparzers aus den zwanziger Jahren, den er seit Ein Traum ein Leben nicht vergessen hatte. Abgesehen von der Aussicht, im Herbst nach England zu fahren, was der Vater unterstützte, gab es eine weitere Hoffnung, die ihn beflügelte und aus dem Stadium der Melancholie herausriss: Er hatte sich trotz Professor Alewyn entschieden, im Wintersemester an die Universität Göttingen zu wechseln. Einmal gab es ein Gespräch zwischen ihm und der ökonomisch beschlagenen Frau des Vaters, die immer wieder versuchte, von ihrem praktischen Standpunkt aus seine geistigen Interessen zu ergänzen und zu kritisieren. Das begann ein Problem zu werden. Zum andern aber hatte er sich von der Ausstrahlung des Germanisten Wolfgang Kayser in Göttingen erzählen lassen, dessen Methode ihm ja schon im Deutschunterricht so sehr gefallen hatte. Dazu kam, dass das Göttinger Theater unter der Leitung des Intendanten Hilpert etwas für ihn versprach: Hilpert, so hörte er, gab auch Regieunterricht für Studenten. Und von Göttingen gab es vielleicht auch eine Möglichkeit, doch noch nach Heidelberg zu kommen.
    Der Vater hatte ihm vorgeschrieben, nach acht Semestern das Staatsexamen zu machen und danach sofort, wenn er dazu fähig sei, in kurzer Zeit zu promovieren, wie er es selbst gemacht habe. Wenn er in Göttingen Fuß gefasst hätte, so seine eigene Überlegung, könnte er, wenn er diese Bedingung des kurzen Zeitplans erfüllte, mit Heidelberg abschließen. Er hatte schon brieflich mit Adrian ausgemacht, dass sie einmal eine Woche lang täglich die Debatten im Parlament verfolgen würden. Ins Parlament, den Bundestag, führe man in einer halben Stunde mit der Rheinuferbahn. Bevor das Semester zu Ende war, gab es noch einmal eine freudige Überraschung: Krümel besuchte ihn in einem gebrauchten Volkswagen zusammen mit einem gleichaltrigen, aparten Mädchen mit üppigen Brüsten. Unerhört aufregend. Krümel hörte seinen Erzählungen über die Universität mit etwas angestrengter Aufmerksamkeit zu. Im Grunde interessierte er sich nicht dafür. Das Abitur hatte er in Heidelberg nicht mehr gemacht, aber er schrieb noch immer Erzählungen. Im Auto lag die letzte Kafka-Ausgabe, die erschienen war, er hatte sie am Vortage gestohlen. Er fand Krümels kühle Haltung, das Desinteresse für das akademische Studium beeindruckend. Krümels Lächeln dagegen hatte einen melancholischen Zug. Im Unterschied zu Adrian hatte Krümel ein Jahr zuvor tatsächlich seine erste Erfahrung in einem Pariser Bordell hinter sich gebracht. Im Gespräch hielt er nicht zurück mit seinen erotischen Eskapaden. Seine Freundin sei schwanger, und deshalb fahre er jetzt mit ihr auf eine alte Landstraße außerhalb der Stadt, wo der Wagen mächtig ins Schütteln gerate. Auf diese Weise hoffe er, dass es doch noch zu einem frühen Abort käme.
    Der Junge hatte weder einen Freund noch eine Freundin an der Universität gefunden. Das musste sich in England ändern. An dieses heikle Thema wurde er auch deshalb erinnert, weil er von Jophi eine Karte aus Südfrankreich bekommen hatte mit einem Bild von Matisse. Nur wenige Sätze. Er habe das schönste Mädchen der Welt gefunden! Eine Amerikanerin aus Chicago. Das war etwas anderes als Krümels Liebschaften! Etwas mehr in die

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