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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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eigene Richtung. Es wurde wirklich höchste Zeit.
    In den Sommerferien besuchte er noch einmal die Großmutter, die nicht mehr im alten Haus am westlichen Ende der Stadt lebte, sondern in einem Dorf nahe der belgischen Grenze, wo sie geboren war. Sie sorgte jetzt für ihren erblindeten Bruder. Der irische Großvater war gestorben, als der Junge sein Abitur machte. Als der Bus an der Landstraße zum Dorf hielt, war es gerade vier Uhr, und der Zufall wollte es, dass die Großmutter ihm ganz in Schwarz und mit einem schwarzen Tuch über dem Kopf entgegenkam, weil sie zur Nachmittagsandacht in die Kirche gehen wollte. Als sie ihn erkannte, schlug sie wie immer die Hände zusammen und sagte: »Dass ich das noch erleben kann!« Sie nahm ihn sofort mit zu ihrem Bruder in das kleine Haus aus rotem Backstein, wo sie gelebt hatte, bis sie den irischen Großvater auf einer Kirmes drüben im Holländischen getroffen hatte. Hier waren die meisten Häuser aus Backstein gebaut, nur einige hatten schwarzweißes Fachwerk. Im Dorf herrschte eine gewisse Unordnung. Es wirkte nicht so aufgeräumt wie die Dörfer rechts des Rheins und weiter nach Osten hin. Wie war die Großmutter damals ins Niederländische gekommen und wie der Großvater hierher? Galt der Pass aus Irland in den Niederlanden und auch für Deutschland, damals vor dem Ersten Weltkrieg? Sie wusste es nicht mehr. Sie hatte es wohl nie gewusst. Es gab Reste vom Apfelkuchen des letzten Sonntags, und er musste der Großmutter und ihrem blinden, über achtzigjährigen Bruder erzählen, was er so mache. Die Großmutter fragte ihn, ob er denn auch immer in die Kirche ginge. Er wollte sie einerseits nicht belügen, ihr andererseits auch keinen Kummer bereiten. Er redete sich so heraus, dass sie nicht mitkriegen konnte, wie schlimm es mit seinem Glauben inzwischen stand: dass er keinen Funken mehr davon in sich fühlte und dass ihm das inzwischen sogar vollkommen gleichgültig geworden war.
    Er hatte diese Landschaft im äußersten Westen gerne. Sie war nicht schön, ganz flach. Aber die lang sich hinziehende Landstraße mit den Pappeln auf beiden Seiten, direkt in Richtung auf die belgische Grenze, ließ ihn denken: Das ist der unendliche Westen. Da ist der Horizont nie zu Ende. Das Wort »Westen« hatte es in sich. Es bedeutete ihm das Meer. Er erinnerte sich daran, wie der Vater vor Jahren erzählt hatte, dass er den Freund über die westliche Grenze gebracht hatte. Dass die zertrümmerte Heimatstadt die letzte große Stadt im Westen war, war jedenfalls zur Zeit noch das Beste an ihr.

III
     
     

54 DRAYTON GARDENS
    Die Überfahrt nach Dover war stürmisch wie im Roman. Zuerst ein sonniger Septembernachmittag, dann aber Wolken, Regen und die sehr bewegte See. Studenten aus Deutschland, Italien und Frankreich standen auf dem Deck, um das Auftauchen der weißen Felsen nicht zu verpassen. Ihm war vom Schaukeln des Schiffs übel, fast hatte er sich an der Reling übergeben. Als sich die englische Küste, erst nur wie ein feiner Strich in der Ferne, abzeichnete, begann es zu dämmern. Da war es: England! Seit dem Film mit Heinrich V., seit dem Hamletfilm, löste das Wort »England« bei ihm eine seltsame Wirkung aus. Widersprüchlich. Vor wenigen Jahren hatten die Erwachsenen noch gerufen »Die Engländer kommen«, wenn die Stadt bombardiert wurde. Das sagten sie ohne besondere Tendenz. »Engländer« hießen ganz einfach die Männer in den Flugzeugen. »England« klang schon bedrohlicher. Vor allem während seiner ersten Schulklasse im Internat, als die Engländer zusammen mit den Amerikanern in der Normandie gelandet waren. England war der Feind. Andererseits hatte er ja zugehört, wenn der Vater und der Großvater im letzten Kriegsjahr den englischen Sender anschalteten, wo am Anfang immer die kühle Stimme zu hören war: »Hier ist London« und dazu ein aufweckendes Klopfzeichen. Da sprach nicht nur der siegreiche Feind. Die Stimme hatte etwas Ruhiges, Vertrauenswürdiges, Selbstbewusstes: Das hatte sich ihm eingeprägt. Und dann waren die Engländer selbst gekommen, nach den Amerikanern. Mit ihren flachen Helmen, die sie manchmal schief auf dem Kopf trugen, wirkten sie wie das absolute Gegenteil der starren deutschen Soldaten, die er so bewundert hatte. Außerdem gab es die lustigen Käppis, die auch die Belgier trugen, die die Stadt später besetzt hielten. Die Käppis der Engländer hatten farblich ganz unterschiedliche Kokarden, je nachdem, zu welchem Regiment sie

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