Granatsplitter
gehörten. Die Schotten trugen karierte Mützen. Entscheidend aber war: England hieß Sieg. Die Engländer hatten in der britischen Besatzungszone als Sieger noch immer mehr oder weniger alles unter ihrer Kontrolle: die Zeitungen, den Rundfunk, die neuen Parteien. Sie machten das ohne großes Getue. Es gab ja seit vier Jahren eine deutsche Regierung. Aber die Engländer hatten das Sagen. Ihre Sprache, ihre Filme, ihre Musik. Er wollte sie nicht bewundern, aber er tat es, je mehr er von ihnen und ihrer Geschichte erfuhr.
Das Wichtigste aber, das er mit ihnen verband, war die See. Und jetzt tauchte der weiße Felsen Englands gut sichtbar hinter einer zerrissenen Nebelwolke auf. Das Schiff hielt auf den Hafen von Dover zu, über dem die Festung schwebte. Gab es ein anderes Land, das einen gleich an seiner Grenze so stolz, so abwehrbereit empfing? Dachte er das nur, weil er bei England an Sieg dachte? Viel mehr gab es nicht zu sehen. Der Regen patschte. Sie hatten unter Deck ihre Sachen zu holen und sich einer nach dem andern in der Schlange auf einem Laufsteg von der Reling hinüber auf die Hafenzone zu tasten, wo die ersten sich schon in Gruppen aufgestellt hatten und auf einen kräftigen Mann mit rotem Gesicht guckten, der ihnen etwas erklärte, was nicht zu verstehen war. Es war der Warden, der für sie die nächsten vier Wochen verantwortliche Leiter des Camps. Er hatte eine lederne Jacke ohne Ärmel an, die er schon von englischen Soldaten in der Heimat kannte: Tatsächlich war der Warden ein ehemaliger Sergeant, der sie auch wie eine Ladung Rekruten behandelte. Von den französischen und italienischen Studenten konnte eigentlich überhaupt keiner Englisch. Unter den deutschen Studenten gab es einige, die sogar recht gut die Sprache beherrschten, jedenfalls besser als er, und übersetzen mussten, was der Sergeant sagte.
Er hatte ein gutmütiges Gesicht über einem mächtigen Körper, und sein Englisch klang so gequetscht, wie er es schon manchmal bei englischen Besatzungssoldaten gehört hatte. Ganz flach und nasal. Ein Berliner, der tatsächlich eine große Schnauze hatte, erklärte sofort, das sei der Cockneyakzent. In Wirklichkeit aber war es der südöstliche Akzent von Kent, von wo der Sergeant herkam, wie sie später von ihm erfuhren. Er hieß Rawley. Auf die Studenten hatte schon eine Reihe von militärischen Lastwagen gewartet, deren Oberdeckbezüge trotz des Regens zum Teil nicht geschlossen waren. Die Fahrt ging über enge Straßen, fast Wege, rechts und links gesäumt von bebuschten Mauern oder Hecken, in Richtung der Stadt Canterbury. Solche engen Landstraßen hatte er noch nie gesehen. Sie gaben einem das Gefühl von Beschütztsein, von einer weiten Entfernung zu den großen Städten. Als das Schild »Canterbury« im Scheinwerferlicht des Wagens auftauchte, sagte er sich: Jetzt sind wir tief im Herzen Englands angekommen. Er kannte den Namen dieser englischen Stadt. Er wusste, dass sie eine berühmte Kathedrale hatte und der Erzbischof gleichzeitig der höchste Bischof der anglikanischen Kirche war. Er erinnerte sich sogar an die Geschichte von der Ermordung eines Erzbischofs von Canterbury durch Adlige des englischen Königs.
Aber von Canterbury bekamen sie vorerst nichts zu sehen. In der Nähe gab es große Apfelplantagen, wo sie arbeiten sollten. Das Lager bestand aus einer Reihe von Wellblechhäusern und großen, graugelben Zelten, in denen früher englische Soldaten gehaust hatten. Überhaupt begann für sie jetzt ein Leben unter einem gewissen Drill. Der Tagesablauf war von früh bis zum späten Nachmittag eingeteilt in Frühstück, Morgenarbeit, Lunch, Nachmittagsarbeit. Dann folgte die Freizeit vor dem Abendbrot, und um 10 Uhr war Schluss: Bettruhe. Denn morgens um 7 Uhr wurden sie geweckt und hatten sich zu duschen, worauf ein englisches Frühstück mit zwei Spiegeleiern, Würstchen, Schinken, Weißbrot und Milchtee folgte. Ihre eintönige Arbeit bestand darin, stundenlang Äpfel von den Bäumen zu pflücken und in Säcke zu füllen, die auf bereitstehende Lorries gehievt wurden. Am Wochenende wurden die verdienten britischen Pfund ausgezahlt. Es gab einen Grundlohn, aber man konnte auch im Akkord arbeiten. Das bedeutete, dass man zu zweit ein System des Pflückens entwickelte, dass die doppelte und dreifache Menge von Äpfeln in die Säcke beförderte, sodass man am Spätnachmittag einen großen Vorsprung vor dem Durchschnitt erreichte. Das war eine schweißtreibende Anstrengung, der er
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