Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
Vom Netzwerk:
auf ihre Lastwagen stiegen, um zurück ins Lager bei Canterbury zu fahren, kamen einige der Londoner Mädchen an den Wagen und versprachen, sie würden sie besuchen kommen. Tatsächlich, einige von ihnen kamen am nächsten Wochenende, ebenfalls in einem Lastwagen, und es gab unter den Augen des Sergeanten noch einmal eine große Tanzparty in dem größten Wellblechzelt. Zum Verdruss seiner beiden Zeltkameraden, die etwas älter waren als er und mit ihrer Frauenkenntnis renommierten, passierte leider nicht mehr.
    Spätnachmittags spielte man manchmal Pingpong. Pingpongspielen, fand er, war immer ein Zeichen von Langeweile, auch wenn manche meisterhaft den Ball schmettern oder schneiden konnten. Pingpong war für ihn wie Rodeln statt Skifahren. Er war jedenfalls mit einer derartigen Überlegung befasst, als die schöne Berlinerin hereinkam, etwas zuschaute und ihn am Ende des Spiels ansprach. Sie hätte eine Bitte: Ob er sie gegen Abend noch einmal nach Canterbury begleite, sie müsse einen Brief mit der letzten Post wegschicken. Der Bus gehe in einer halben Stunde. Natürlich sagte er ja. Als er mit der Studentin das Lager verließ, sahen seine beiden Lagergenossen wie gebannt hinter ihnen her. Sie kannten den Grund ihres gemeinsamen Weggehens nicht. Sie dachten, er habe die Wette eingelöst und das Mädchen zu einem einsamen Spaziergang in den nahen Wiesen eingeladen. Er selbst wusste gar nicht, wie ihm geschah. Gewiss, sie wollte bei der Rückfahrt ins Lager nicht in der Dunkelheit alleine sein. War es bloß Zufall, dass sie ihn gefragt hatte? Immerhin, sie hatte ihn gefragt. Die ganze Frauensache hatte sich seit der Schulzeit ja nicht verändert. In der Bekanntschaft der Eltern gab es keine einzige Tochter, in der Universität war er zu okkupiert gewesen mit seinem glücklosen Versuch mit Hegel und der Enttäuschung, in den langweiligen germanistischen Seminaren zurechtzukommen. Dann kam Krümel mit seiner üppigen Geliebten und dann die Karte von Jophi. Wahrscheinlich überschätzte er die Situation. Ja, sie mochte ihn, das war zu erkennen. Aber er hatte ja nicht einmal Zeit gehabt, sich in sie zu verlieben. Er dachte nur, jetzt müsse er etwas beweisen. Jedenfalls stellte er seine Armbanduhr vorsorglich schon einmal um, als sie in Canterbury in ein altes Pub gingen, nachdem sie den Brief in den roten Briefkasten mit der Royal-Mail-Krone geworfen hatte. An wen hatte sie eigentlich den Brief geschickt? Ohne dass er sie gefragt hätte, erwähnte sie ihre Mutter in Berlin. Die sei krank. Das gab Hoffnung für eine günstige Entwicklung des Abends. Sie tranken beide ein dunkles Bier und sprachen über England oder eher darüber, was sie davon bisher mitbekommen hatten. Seine Aufmerksamkeit war jedoch beeinträchtigt durch eine innere Anspannung. Sie sah wirklich sehr attraktiv aus, ein schmales Gesicht mit einem lebhaften Blick, ziemlich groß gewachsen, Formen, aber unaufdringlich. Er versuchte, an ihrem Verhalten jedes mögliche Anzeichen zu entdecken, das er als ein Jenseits der kameradschaftlichen Tonlage verstehen konnte. Das blieb lähmend ungeklärt.
    Der Bus sollte um zehn zurückfahren, nach seiner Zeit hatten sie noch eine halbe Stunde. Im Pub gab es keine Uhr. Wie er erwartet hatte, verpassten sie den Bus, ohne dass sie irgendeinen Argwohn bekommen hätte. Seine Armbanduhr funktionierte eben nicht. Vor ihnen lag ein mehr als anderthalbstündiger Fußweg, meist durch einen Buchen- und Eichenwald. Allein schon dadurch, dass sie von einem nur spärlichen Mondlicht begleitet wurden, empfand er ihr Nebeneinander im stetigen Weitergehen wie eine Drohung. Würde sie irgendetwas unternehmen? Was sollte er unternehmen? Er hörte längst schon nicht mehr richtig zu, was sie sagte, und seine eigenen Worte kamen mechanisch aus seinem Mund, ohne dass er noch eine Mitteilungsabsicht verfolgte. Der Wald würde bald vorbeisein und dann wären es nur noch zehn Minuten bis zum Camp. Wartete sie auf etwas, genauso wie er? Ohne irgendeine Gewissheit, ohne das geringste Anzeichen einer Veränderung ihres Daherredens und Miteinanders zählte er bis zehn, zog sie dann plötzlich an sich und versuchte sie zu küssen. Die Reaktion war verheerend. Sie lachte und stieß ihn zurück. Was ihm einfiele! Schweigsam erreichten sie das Lager. Sie schien ihm irgendwie über die Peinlichkeit hinweghelfen zu wollen, nickte ihm zu und sagte nur »bis morgen«. Es war Mitternacht. Die beiden Lagergenossen empfingen ihn mit einem großen Hallo,

Weitere Kostenlose Bücher