Granatsplitter
sich zuerst nicht aussetzen wollte, denn er war ganz zufrieden mit dem Grundgehalt von 12 Pfund. Sie hatten Glück, dass das Septemberwetter hielt und nach dem Frühnebel sich eine Sonne durchkämpfte und die Landschaft selbst sich im idyllischen Grün wohlfühlte. Zu ihrer aller Überraschung gab es auch einige Studentinnen im Lager, die in einem Extrazelt lebten. Unter ihnen war eine Berlinerin, etwa vierundzwanzig Jahre alt, die sofort die Aufmerksamkeit seiner Zeltkameraden, eines Franzosen und eines Spaniers, auf sich zog. Sie schwärmten sozusagen von ihr. Auch ihm gefiel die dunkelhaarige, selbstbewusste und offensichtlich ziemlich intelligente Studentin sehr. Plötzlich kamen seine beiden Mitbewohner auf die Idee, darauf zu wetten, wer es als erster fertigbrächte, dieses Mädchen zu einem Ausflug nach Canterbury zu überreden. Sie verständigten sich darüber in einem gebrochenen Redestrom verschiedener Sprachen, wobei Französisch, das er und der Spanier etwas verstanden, die tägliche Leitsprache wurde.
Bevor es aber zu diesem Wettbewerb kam, den er selbst nicht richtig ernstnahm, hatte sich der Sergeant etwas zur Unterhaltung ausgedacht. Sie durften an einem Wochenende nach London fahren und eine Dancing Hall besuchen. Nach London fahren hieß, in dem Militärlastwagen vor die ausgesuchte Dancing Hall gebracht zu werden und von dort wieder zurück. Von London selber sahen sie nichts, weil es schon dunkel war, als sie eintrafen. Das Innere der Dancing Hall bestand aus eisernen Geländern, Stützpfeilern, Balkonen, die in verschiedenen Farben angemalt waren. Eine knallige Atmosphäre, die durch die lautdröhnende Tanzmusik ins Enorme verstärkt wurde: Boogie Woogie. Die Mädchen flogen hoch, manchmal sogar über die Schultern der Tänzer. Es war zum Fürchten beeindruckend, jedenfalls für ihn, der ja bisher nur mit Schwierigkeiten Walzer, Foxtrott und Tango gelernt hatte.
Seit dem Fasching auf der Schule hatte er nicht mehr getanzt. Da die wenigen Mädchen, die er wenigstens flüchtig kennengelernt hatte, im Lager geblieben waren, stand er ziemlich hilflos herum. Und dann trat ein, was er befürchtet hatte: Damenwahl! Und so geschah es, dass ziemlich bald eine junge Londonerin vor ihm stand und klatschte. Sie war sehr hübsch und machte sich gar nichts daraus, als er mit Handbewegungen klarmachte, dass er nicht Boogie Woogie könne, nicht gut Englisch spreche und darüber hinaus ein German sei. Sie lachte nur und zwang ihn, ihre Schritte nachzumachen. Es klappte sogar nach einer Weile, jedenfalls etwas. Nach ihr kam sofort wieder eine und klatschte, dann eine dritte. Es war beunruhigend. Was würde daraus werden?
Die Tänzerinnen waren großenteils Mädchen, die in Büros und Kaufläden der City arbeiteten. Sie wurden Shopgirls genannt. Da der Tanz trotz Körpernähe so sportlich und drastisch war, kam nicht gerade eine große erotische Stimmung auf. Die Mädchen waren lustig und freundlich. Am Ende des Abends wechselte die Musik. Nicht mehr Boogie Woogie, sondern ein populäres englisches Lied, das alle kannten und offenbar zum Abschluss einer solchen Gelegenheit liebten. Dabei bildeten sie eine lange Reihe, jeder und jede hintereinander, fassten sich mit beiden Händen an den Schultern und bewegten sich in einer hüpfenden Schlangenbewegung durch den ganzen Saal. Es war ähnlich wie eine Polonaise, hatte aber zusätzlich etwas kindlich Albernes an sich. Das war es gerade! Natürlich machten er und die anderen Studenten mit, weil man sich wenig blamieren konnte. Und ganz zum Schluss fassten sie sich alle an den Händen und sangen ein wunderschönes Lied: »Auld lang syne«, eine volkstümliche, aber ergreifende Melodie. Später ließ er sich die Worte von einem der Mädchen, mit dem er getanzt hatte, aufschreiben: »Should auld acquaintance be forgot, / And never brought to mind? / Should auld acquaintance be forgot, / And auld lang syne! // For auld lang syne, my dear, / For auld lang syne. / We’ll take a cup o’ kindness yet, / For auld lang syne.« Die Worte waren schottisches Englisch, aber sofort verständlich, nur das »auld lang syne« musste er sich erklären lassen. Auf Englisch hieß das: »For old times’ sake«, also »um alter Zeiten willen«. Wie schön war dieses Lied! Und wie besonders das englische Wort »kindness«! Es war ein ganz einfaches Wort, häufig zu hören. Aber es hatte eine unübersetzbare englische Eigenschaft: Herzlichkeit. Das ergriff ihn bis ins Mark. Als sie wieder
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