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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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verändert hat.
    Was der Vater nun erzählte, wurde für den Jungen eine Art Urgeschichte des Vaters, die er fast auswendig lernte. Vater, Mutter und die Freunde waren schon einige Zeit beim Tanzen und in Gespräche vertieft, als eine Gruppe von Männern im Schwarzbraun der neuen Uniform der Staatspartei durch die Tür kam. Die fünf oder sechs Männer hatten braune Käppis mit Kinnband auf und an ihren schwarzen Koppeln baumelten Dolche. Obwohl sie schon in einer aufgeladenen Stimmung waren, die vom Alkohol herrührte, gaben sie sich gegenüber der zu ihrem Aussehen in scharfem Kontrast stehenden zivilen Umgebung zunächst zurückhaltend. Sie wählten einen der freien Tische am Rande der Tanzfläche, wo der Ranghöchste eine Runde Bier bestellte. Der Kellner habe sich beeilt, die neue und offenbar seltene Art von Gästen mit sichtbarer Folgsamkeit zu bedienen, jedenfalls standen die gefüllten Biergläser in kürzester Zeit auf dem Tisch. Alles sah zu den neuen Gästen hin. Was waren das für Menschen, die ihre Zusammengehörigkeit durch Uniformen demonstrieren mussten? Merkwürdige Kreaturen, von denen etwas Befremdliches, sogar Gefährliches ausging. Dieses Gefühl habe sich umso stärker verbreitet, weil diese Männer ja keine Eindringlinge von einem fremden Stern waren, sondern aus ihrer Mitte kamen. Viele Menschen wären offenbar über Nacht anders geworden. Den Tanzgästen hätte man angesehen, dass ihnen beim Anblick dieser Uniformen nicht recht wohl war, zumal die Uniformierten nicht bloß miteinander tranken und sprachen, sondern aufmerksam die Tanzfläche musterten, denn es gab eine Reihe hübscher junger Frauen zu sehen.
    Als mein Freund und seine Verlobte erneut einen Tanz begonnen hatten, den sie eng umschlungen tanzten, fuhr der Vater fort, passierte etwas Unglaubliches: Einer der Uniformierten, offenbar schon in Bierlaune, ging auf die Tanzfläche, tippte unserem Freund auf die Schulter und sagte – ich saß direkt daneben und konnte es hören –, er solle gefälligst seine Finger von blonden Frauen lassen, oder er könne etwas erleben. Der Vater erklärte daraufhin, dass der Freund einer in Köln seit langem ansässigen jüdischen Kaufmannsfamilie entstammte. Es sei eine Bewegung auf der Tanzfläche entstanden. Nicht alle hätten die Situation sofort mitbekommen, aber plötzlich war eine gespenstische Ruhe im Lokal. Dieser Moment habe den Freund vor der drohenden Situation gerettet, entweder der Aufforderung nicht Folge zu leisten und damit Gewalttätigkeiten auf sich zu ziehen oder einen demütigenden Rückzug anzutreten. Bevor der Freund selbst noch antworten konnte, habe ich, sagte der Vater, vor dem Uniformierten gestanden. Er habe zu diesem nur einen Satz gesagt: Ob er eigentlich wisse, dass er sich in Herrengesellschaft befände. Der Vater liebte es, diesen Satz auch noch zwanzig Jahre später zu wiederholen: Ob er wisse, dass er sich in Herrengesellschaft befände! In dem daraufhin ausbrechenden Tumult kam es zur Schlägerei.
    Der Vater hatte sich nicht aus schierer Ritterlichkeit ungeschützt in diese Gefahr begeben, sondern mit einer gewissen Berechnung. Er war zwar, ähnlich wie der Freund, von eher zierlicher Gestalt, aber ein ausgezeichneter Boxer. Er hatte Boxen regelrecht gelernt in der Boxstaffel der Universität bei dem ehemaligen nationalen Champion im Leichtgewicht, einem gewissen Hein Domgörgen. Anstatt, wie die meisten ehrgeizigen Studenten, in einer sogenannten Schlagenden Verbindung anzutreten, hatte der Vater das Gegenteil gewählt. Weil die Familie ja seit jeher aus Kaufleuten und Anwälten bestand, die nichts mit dem Nationalismus der Beamten und Akademiker zu tun haben wollten, hatte der Vater das Studienfach Nationalökonomie gewählt. Das entfernte ihn von nationalistischen Einflüssen. Umso mehr, als er dort mit jüdischen Studenten, von denen es in Köln viele gab, zusammengetroffen war und zwei seiner besten Freunde Juden waren. Der eine stand an diesem Nachmittag neben ihm auf der Tanzfläche. Das Studium hatte den Vater auch dazu geführt, dass er bald nach dem Ersten Krieg für anderthalb Jahre nach Paris ging. Er sollte, so war die Idee seines Professors, eine längere Arbeit über die französische Landwirtschaftspolitik nach dem Krieg schreiben, woraus aber nicht das wurde, was er sich vorgenommen hatte, weil die französischen Behörden ihm nur Stolpersteine in den Weg legten und ihn nicht an die notwendigen Akten ließen.
    Der Vater hatte sich in Paris aber

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