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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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Schwanz. Seine drohenden Handbewegungen ließen alle Kinder erstarren. Die Ansprache von Nikolaus an jeden Einzelnen war wie die Eröffnung des letzten Strafgerichts gewesen. Nachdem das Sündenregister des letzten Jahres vom heiligen Bischof aus einem Buch vorgelesen war, blieb ja nur eine furchtbare Strafe zu erwarten, die in Hans Muffs Gestalt sich ankündigte. Der Schrecken der Kinder war grenzenlos, und sie steckten sich hierin gegenseitig an, je größer die Phantasie des einzelnen war.
    Die des Jungen war jedenfalls enorm, ganz im Unterschied zu seinem Vetter, dem Sohn der Schwester der Mutter, die auch im Hause des irischen Großvaters wohnten. Diese Tante hatte einen ganz anderen Charakter als die Mutter: Sie war immer ungeschminkt, nach außen hin sehr kirchengläubig, sehr hausfraulich und als Mutter immer da. Es gab bei ihr keinerlei Neigung für etwas, das außerhalb des Alltäglichen und Selbstverständlichen lag. Ganz im Unterschied zu ihrem Mann, einem mittleren Bankangestellten mit religiösen Ambitionen, der an den Papst Briefe schrieb. Dieser hatte seinen Freund, einen gelehrten Kaplan, gebeten, für die Kinder einen richtigen Nikolaus vorzutäuschen. Der Junge war von Erscheinungen wie dem Heiligen Nikolaus ganz verwandelt und sprach auch mit keinem anderen Jungen, der an den Nikolaus nicht glaubte. Es war eine wirkliche Erlösung von großer Furcht gewesen, wenn am Ende des aufregenden Abends des 5. Dezember der Heilige Nikolaus es bei Ermahnungen beließ und Geschenke von so überraschender Vielfalt verteilte, dass sie für jeden Einzelnen das Richtige zu sein schienen. Ein solches Wunder konnte nur von himmlischen Händen vorbereitet werden.
    Aber Nikolausabend war ja nur das Vorspiel zum Heiligen Abend. Nur eine Vorbereitung, weil das Christkind ein so viel höheres Wesen als der heilige Bischof war. Alle Kinder der Umgebung des Hauses des irischen Großvaters glaubten damals an das Christkind, für den Jungen war das Christkind der höchste Engel. Dass es das heilige Kind in der Krippe sei, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Das Christkind war kein Kind, das in Windeln lag. Es war das überirdische Wesen, das er, wenn er in das nur von den Kerzen des Weihnachtsbaums beleuchtete Zimmer trat, zu erblicken glaubte, im Schein der Kerzen, der sich spiegelte in silbernem Lametta und silbernen und roten Kugeln. Es war für ihn ein weiblicher Engel von ungewöhnlicher, fremdartiger Schönheit. Einmal hatte er diesen Engel vor sich gesehen und, obwohl er erst sechs Jahre alt war, sich in ihn verliebt. Als er in die Volksschule gekommen war, hörte er andere Jungen zur Adventszeit vom Weihnachtsmann reden. Sie kannten kein Christkind. Der Weihnachtsmann war der Mann mit roter Kapuze, der ein Geschenk in den Strumpf legte, den man am ersten Weihnachtsmorgen fand.
    Für ihn war die Adventszeit eine von Sonntag zu Sonntag sich steigernde Atmosphäre der Erwartung gewesen und eines Zaubers, in den er sich immer mehr hineingedacht hatte. Dabei hatten die Melodien der verschiedenen Advents- und Weihnachtslieder eine ganz besondere Bedeutung. Es gab die langsam getragene Melodie von »Stille Nacht, heilige Nacht« und »Leise rieselt der Schnee«, aber auch das sehr schöne und geheimnisvolle Lied »Maria durch ein Dornwald ging«. Im Gegensatz dazu die rhythmisch bewegten Strophen von »Heute, Kinder, wird’s was geben«, die er besonders gerne hörte. Obwohl die Worte der langsamen Lieder auch ihn selbst in den Zustand einer langsamen Bewegung, in den Zustand einer gewissen Versunkenheit versetzten, hatte er für die schnellen und beschleunigten Lieder eine ihm erst noch verborgene, dann aber immer stärker hervortretende Vorliebe gehabt: Der Refrain »Heissa! Heut’ ist Weihnachtstag!« entzündete einen dramatischen Impuls, der auf etwas gewartet hatte. Das schöne, altmodisch klingende Wort »Heissa« war für ihn das Ereignis, das nun gekommen war, ein leuchtendes Zeichen. Nicht das Fröhliche daran, sondern das Heftige zog ihn an.
    Das Allerwichtigste am Heiligen Abend und der Zeit davor aber war, dass die normale Zeit in eine nichtnormale Zeit, in eine andere Zeit versetzt wurde. Er wusste, dass es eine andere Zeit war. Das Öffnen der Fenster im Adventskalender hatte manchmal nur einfache Dinge zum Vorschein gebracht, manchmal dagegen waren es Überraschungen. Aber unabhängig davon, was sich hinter den Fensterklappen verbarg, war ihm beim Öffnen der Fenster immer die Erwartung entstanden, dass

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