Granatsplitter
Trümmer die große Stadt ausfüllten, solange konnte man sich etwas anderes vorstellen. Keine Häuser, keine neuen Häuser. Er dachte vielmehr, dass es eine schöne Zeit in dieser Hässlichkeit war. Alles war in Gedanken möglich. Die Trümmer bildeten gewaltige Gebirge. Endlos an einer Stelle, sodass der Blick sich hinzog, begrenzt an einer anderen Stelle, sodass der Blick festsaß. Ihn zogen die Trümmer an. Man sprach von Trümmerlandschaft. Aber die sah er nicht. Nicht die Ordnung einer Landschaft, sondern die Unordnung von etwas, das er selbst ordnen konnte, wie er wollte. Jeden Tag, wenn er Zeit hatte, zog es ihn bei seinen Besuchen in diese unbekannte Stadt aus Trümmern.
TANZTEE
Was der Vater ihm über die kriminellen Verhältnisse im Staat gesagt hatte, war nur die Oberfläche der Sache gewesen. Ihre tieferen Gründe gingen viel weiter zurück in die Zeit, als er noch klein war. Nachdem der Krieg vorbei und der Junge dreizehn Jahre geworden war, begann der Vater mehr und mehr davon zu erzählen. Es sei um 1934/35 gewesen, als er mit der Mutter in Berlin gewohnt habe, gerade zu dem Moment, als die großen Veränderungen sich Platz schufen, sodass über Nacht das, was bisher galt, keine Geltung mehr gehabt hätte. Diese Veränderung sei gleichzeitig sprunghaft und langsam vor sich gegangen. Die meisten Leute hätten es nicht so wahrgenommen wie er, weil vieles an äußerlichen Dingen, gerade auch das Vergnügungsleben in der Hauptstadt, weiter seinen gewohnten Gang genommen hatte. Die Mutter, gerade zweiundzwanzig Jahre alt, hätte davon besonders profitiert. Mit einer der Freundinnen war sie jede zweite Woche in einen der neuen Filme gegangen und hatte sich sagen lassen, dass sie große Ähnlichkeit mit dem internationalen Star der Zeit, Greta Garbo, hätte. Das hätten sich damals viele junge Frauen in der Hauptstadt eingebildet. Aber bei der Mutter hätte es besondere Ausmaße angenommen. Ihr Aussehen hätte tatsächlich dem Stil der schönen Frauen entsprochen, die in glänzenden schwarzweißen Fotos an der Kinokasse hingen. Und dann wären in jenen Anfangsjahren des Jahrzehnts, das die großen Veränderungen brachte, sogar Filmleute vor ihrem Tisch im Café aufgetaucht, um ihr Probeaufnahmen anzutragen. Mächtig geschmeichelt und eitel, wie sie war, hätte sie die gebotene Zurückhaltung nicht wahren können und den Filmleuten ihre Adresse gegeben.
Als daraufhin eine Woche später prompt ein Kameramann an der Wohnungstür aufgetaucht war, kam es zu einem der Zerwürfnisse zwischen mir und deiner Mutter, so der Vater, die sich fortan wiederholten und immer mit den nie realisierten Filmverbindungen zu tun hatten, auf die sie so erpicht war. Sie traf sich einige Male mit dem Kameramann in einer der eleganten Hotelhallen. Obwohl es mehrere Aufnahmetermine gab und alle Welt, Familienmitglieder und Freundinnen, die dabei entstandenen Fotografien bewunderten, wurde nichts aus ihren Erwartungen. Aber sie lebte weiter in der Welt der neuen Filme und der neuen Schlager.
Der Vater erinnerte sich, dass sie sämtliche Strophen dieser Schlager auswendig konnte und sie mit einer gewissen Begabung für den Rhythmus, wenn auch ohne eigentliche Musikalität gesungen hatte. Wenn sie zum Beispiel sang: »Johnny, wenn Du Geburtstag hast, bin ich bei dir zu Gast, die ganze Nacht«, hatte das Dienstmädchen die Augen verdreht. Auch das Dienstmädchen summte bei der Arbeit gerne die aktuellen Schlager. Ihr liebster war: »Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami«, aber auch »Ich wollt’, ich wär ein Huhn und hätt’ nicht viel zu tun« – der Vater musste beim Erzählen lachen –, wenn das Dienstmädchen auf den Knien rutschend die Winkel der Zimmer mit dem nassen Aufnehmer reinigte und bei ihren Bewegungen in eine Art Versonnenheit geriet. Der Junge konnte diese Lieder später, als er sechs Jahre alt war, nicht leiden, vor allem deshalb nicht, weil die Männer, denen die Liebe galt, nach seiner Meinung gar keine richtigen Männer waren, sondern Waschlappen. Nur das Lied vom Huhn, das fand er passend. Frauen, jedenfalls die Mutter und das Dienstmädchen, waren manchmal so gedankenfrei wie Hühner.
Die Mutter – fuhr der Vater fort – hat den großen Veränderungen, die im Staat damals einsetzten und von Monat zu Monat sich dramatisch entwickelten, kein Interesse abgewonnen. Ihre vollkommene Gleichgültigkeit bei solchen Themen hat mich erschreckt. Bei so ernsten, immer beunruhigenderen Ereignissen erhoffte ich
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