Granatsplitter
angesichts der Gefahr eines neuen Krieges gegen Frankreich. Zudem musste man die tektonischen Wirkungen der Eisenbahnlasten einplanen, die Erschütterungen des Terrains durch Munitionszüge. Die Auszeichnung wurde nicht nur in Ehren gehalten, weil ihr Träger früh sein Leben verloren hatte, sondern auch wegen eines komischen Zufalls. Der irische Großvater hätte nämlich zur gleichen Zeit im Dom als Zimmermann geholfen, das Glockengerüst neu zu richten. Bei dieser Gelegenheit passierte es, dass der junge Ire, der sehr gläubig war, mit einem Hammer über einen sozialistischen Zimmermann herfiel und ihm drohte, er würde ihn erschlagen, wenn er nicht zur Heiligen Maria bete. Das klingt völlig verrückt, so der Vater, es ist aber wahr, dass der irische Großvater für einige Zeit im Gefängnis saß. Was genau passiert war, wusste keiner, und deine Mutter wollte nie darüber reden. Aber diese Geschichte ändert gar nichts daran, dass der Großvater ein sehr sympathischer Mann ist.
Der Stolz des Vaters auf die Familie zeigte sich nicht allein bei der Geschichte über den Dombaumeister. Auch der andere Bruder des Großvaters war ihm wichtig. Dieser Brückeningenieur war im Zuge der politischen Neuordnung 1933 prompt seiner Ämter verlustig gegangen. Es war kein Widerstandsakt, der ihn hätte ins Gefängnis bringen können. Er hätte bloß auf die Aufforderung des neuen Parteioberen der Rheinprovinz, sich mit seinen Plänen für sämtliche Brücken vorzustellen, erklärt, seine Sprechstunden seien dann und dann. Das hatte genügt. Da die einzelnen Familienmitglieder das herzlichste Verhältnis zueinander unterhielten, war die Nachricht vom Berufsverlust vor allem bei den Neffen eingeschlagen wie ein Blitz. Besonders bei ihm.
Dass der Onkel seinen Beruf verloren hatte, erklärte der Vater, sei schlimm genug gewesen, aber nicht lebensbedrohlich, da die Gelder der Familie mehr als ausreichten. Das eigentlich Bedrohliche war, dass die Zeit einer Willkür eingesetzt hätte, die das schöne Leben, das sie lebten und weiter leben wollten, veränderte. Darüber konnte man nur innerhalb der Familie und mit einigen der nahen Freunde reden. Nicht etwa, weil es zu diesem Zeitpunkt schon gefährlich war, sondern weil die Leute, die man so kannte, offenbar nichts Anstößiges an solchen Vorfällen fanden, wie sie der Onkel erleben musste. Sie hätten es nicht einmal gemerkt. Man hatte den Onkel nach der schriftlich verfügten Entlassung vorgeladen und über seine politischen Ansichten befragt. Er hatte mit diesen nicht hinter dem Berg gehalten, ohne dabei die gewohnte Vorsicht aufzugeben. Doch für die Vernehmer war der richtige Vogel ins Netz gegangen. Leute mit seinen politischen Ansichten wurden zu diesem Zeitpunkt, wenn sie beamtet waren, reihenweise aus ihren Berufen entlassen. Der Vater fügte noch hinzu, es wäre verständlich gewesen, dass die Leute nicht besonders darüber sprachen, wenn es den Arbeiterparteien an den Kragen ging, das hätte man noch aus der eingefleischten Angst vor sozialen Unruhen und Revolution verstehen können, dass man aber hinnahm, Angehörige aus den bürgerlichen Berufen so behandelt zu sehen, hätte ihn in einen dauernden Alarmzustand versetzt. Seit damals sei ihm klargewesen, dass er sich in diesem neuen Staat unsicher fühlen würde.
Mein unruhiger Zustand, fuhr der Vater fort, wurde durch ein ungewöhnliches Ereignis verschärft. Es war ja nicht so, dass ich die lebenslustigen Wünsche deiner Mutter ganz und gar ablehnte. Ich selbst ging, bevor der Umsturz kam, in flausigen breiten Hosen, die damals in Mode waren, mit Freunden den Tango tanzen und entdeckte dabei deine Mutter, ein junges sechzehnjähriges, sehr schönes Mädchen, das Verkäuferin in einem großen Kaufhaus war. Wir fuhren sogar in die belgische Seestadt Knokke, um dort noch ungestörter tanzen zu können. Das Tangotanzen wurde in Berlin fortgesetzt, wo wir nach der Hochzeit eine Zeit wohnten. Wir besuchten nachmittags Tanzetablissements, wo die neue Musik gespielt wurde: Foxtrott, Jazz und auch der geliebte Tango. Die neue Partei hatte das noch nicht verboten. Häufig trafen wir uns mit einem engen Freund, den ich vom gemeinsamen Wirtschaftsstudium in Köln her kannte, die wegen ihrer wirtschaftlichen Fakultät besonders angesehen war. Einmal hatte dieser Freund seine Verlobte bei sich, und es schien ein schöner Nachmittag zu werden. An diesem Tag im Hochsommer 1934 ist aber etwas passiert, das unser weiteres Leben
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