Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
Vom Netzwerk:
mehr Aufmerksamkeit, und sei es nur aus Sympathie. Dazu war noch etwas Schwerwiegenderes gekommen als die bloße Enttäuschung über ihre leichtfertigen Launen.
    Meine Familie, erzählte der Vater, also der Großvater, seine beiden Brüder und eine Schwester sowie die fünfundneunzigjährige Urgroßmutter, gehörte zur alten liberalen Partei, die auch nach der Vereinigung zum Reich nicht national dachte. Sie waren auch gegen den neuen Reichskanzler gewesen. Das hatte sich schon aus Alltagserfahrungen ergeben, zum Beispiel auf den Reisen in westeuropäische Länder. Großvaters mehrjähriger Aufenthalt als junger Maler in Paris ist ein Beispiel dafür. Andererseits gab es, vor allem vor dem Ersten Krieg, auch patriotische Stimmungen in der Familie. Es ging die Geschichte vom Großvater um, der sich aus solchem Patriotismus auf der Prachtallee der französischen Hauptstadt heftig blamiert hatte. Der Vater schilderte es so: Zufällig sah der Großvater einen Menschenauflauf in Erwartung einer Militärparade. Er mengte sich unter die Menschen und wurde Zeuge des Vorbeiritts der zaristischen Garde, die anlässlich des Zusammentreffens höchster Würdenträger beider Länder dem Gastland die Ehre gab. Als die Zuschauer der Reiter in den schimmernden Kürassierpanzern ansichtig wurden und in den Ruf »Vive les Russes« ausbrachen, habe der Großvater den vor ihm Stehenden mit dem Stöckchen auf die Schulter geklopft und mit Stolz gesagt: »Non, Monsieur, ils ne sont pas des Russes, ils sont des Prussiens.« Er hatte offenbar die Adlerhelme der russischen Gardekavallerie für preußische Adlerhelme gehalten. Der Vater, immer kritisch gegenüber dem etwas verträumten Großvater, fügte hinzu, man hätte solche Verwechslung in Anbetracht der Ähnlichkeit der Gardehelme beider Armeen noch verstehen können. Aber die prinzipielle Ahnungslosigkeit bezüglich der politischen Situation, das sei doch auffällig gewesen. Denn seit 1870/71 müsste es jedem Informierten klargewesen sein, dass es keine preußische Garde auf den Champs Elysées geben könne.
    Der Zwischenruf des Großvaters, so die Ansicht des Vaters, kam aus einer gespaltenen Vaterlandsliebe. Der Großvater hätte sich die preußische Garde wahrscheinlich deshalb auf die Champs Elysées gewünscht, weil er gegenüber den Franzosen einen sehr besonderen Ehrgeiz verspürte, nämlich als ein Landsmann aus alten Zeiten. Die Familie habe zwar seit dem frühen 19. Jahrhundert in Köln gelebt, stammte aber aus der französischen Stadt Besançon. Von dort, so die Familienüberlieferung, sei der letzte französische Namensträger im Jahre 1793 mit Frau und drei Söhnen in einer Nacht geflohen. Der Vater ging jetzt in historische Einzelheiten, denen der Junge nur mühsam folgen konnte, obwohl er sie spannend fand: Die radikale Partei der Stadt hatte diesen Vorfahr auf ihre Verhaftungsliste gesetzt, weil er zur weniger radikalen Kaufmannschaft gehörte, die ihre Politik gegen die Tendenzen der Pariser Revolutionsregierung und deren Repräsentanten in der eigenen Stadt richtete. Nun, als der Terror auch die Provinzstädte erreichte, musste man mit solchen politischen Ansichten sehen, wie man am Leben blieb. Und der Urururgroßvater, so der Vater, hätte sich entschlossen, über die Grenze in den Südschwarzwald zu gehen, wo er einen Dorfweiler mit seinem Namen gründete, der, so betonte der Vater, noch immer existiere. Zwei der Söhne seien dann die Begründer der Familie in Köln geworden, die sich völlig in das neue Land eingelebt hätten. Aber die französische Sprache hätten alle Nachkommen selbstverständlich sprechen können.
    Der Großvater – so fuhr der Vater fort – war als Kunstmaler an der Düsseldorfer Akademie noch in der klassizistischen Tradition erzogen worden. Wegen des neuen sogenannten impressionistischen Stils ging er vor dem Krieg nach Frankreich. Er war der Weltfremde in der Familie, wie du weißt. Seine beiden Brüder, ein Architekt und ein Ingenieur, waren es nicht. Der eine, der Architekt, ist als Reservehauptmann, hochdekoriert, im Osten gefallen. Er hatte sich vor dem Krieg durch den ersten Preis bei einem Architekturwettbewerb zur Veränderung des Hauptbahnhofs gegenüber dem Dom ausgezeichnet und war vom Kaiser mit dem Titel »Dombaumeister« geehrt worden. Das war ein Titel in Anlehnung an den ersten Baumeister des Doms, Gerhardt von Rile. Der Bahnhof lag, wie die Brücke zum jenseitigen linken Rheinufer, an einer strategisch wichtigen Stelle

Weitere Kostenlose Bücher