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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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trotzdem wohlgefühlt. Auch deshalb, weil er eine Reihe von Leuten kennenlernte, die sich einmal in der Woche am Mittagstisch der Madame Agache trafen, der Frau eines französischen Architekten, der in Argentinien größere Bauten ausführte. Er war zu dieser Einladung gekommen, weil schon der Großvater dreißig Jahre zuvor häufig bei den jungen Agaches eingeladen gewesen war. An diesem Mittagstisch hatte der Vater auch den Entschluss gefasst, nach Argentinien auszuwandern. Nach Ende seines Pariser Aufenthalts war er nach Spanien gefahren, um von dort nach Buenos Aires zu reisen. Das war zur Zeit der Diktatur des Präsidenten Primo de Rivera, als die Anarchisten laut wurden. Auch hier wieder eine Szene, die der Vater besonders gern mit spanischem Pathos erzählte: Auf der Höhe über Madrid hätte es eine große Christusstatue gegeben mit der Inschrift »Ich bin der Herr«. Eines Tages wäre dieser in schönen Lettern gesetzte Satz durchgestrichen gewesen, und darunter hätte in greller Farbe gestanden: »Und das glaubst du?«
    Es waren solche besonderen Bilder, die das, was der Vater erzählte, für den Jungen so einprägsam machte. Der Vater liebte formelartig kurze Sätze, die eine Sache auf den Punkt brachten, ganz unabhängig von ihrem Inhalt. Er freute sich zum Beispiel in der Erinnerung darüber, wie er morgens in seinem kleinen Pariser Studentenhotel in der Rue Dragon, einer Seitengasse des Boulevard Saint Germain, vom Hotelkellner immer mit einem einzigen Satz geweckt worden sei: »Café pour deux, Monsieur?« Aus dem Argentinienwunsch des Vaters war nichts geworden, denn die argentinischen Behörden hatten wegen der Wirtschaftslage strikte Einwanderungsbeschränkungen herausgegeben. Der Vater blieb für ein Jahr noch in Madrid, sich mit Sprachstunden durchschlagend. Jedenfalls hatten die Aufenthalte in Paris und Madrid seinen Blick auf die Welt verändert. Er hatte Französisch und Spanisch gelernt.
    Kurzum, es galt nun, dem Uniformierten entgegenzutreten. Der durch die Beleidigung Ergrimmte, der sich auch vor seinen Kameraden glaubte bewähren zu müssen, habe versucht, ihn, den offenbar nicht so Kräftigen, mit schierer Körperkraft zu besiegen. Er wollte ihn mit den Händen fassen und über die Tische schleudern, sozusagen Kleinholz aus ihm machen, aber er hatte nicht mit dem Geschick des Vaters gerechnet. Nach kurzer Zeit war der Uniformierte, sagte der Vater, schwer getroffen und hätte heftig im Gesicht geblutet. Er war so zugerichtet, dass er mit einer drohenden Geste aufgab. Die Kameraden des Uniformierten hätten nicht eingegriffen und nichts getan, um die für sie alle blamable Situation zu ändern. Inzwischen hätte der Oberkellner die Polizei alarmiert, die mit zwei vollbesetzten Wagen eingetroffen sei. Obwohl die Polizei zu diesem Zeitpunkt schon von einem der höchsten Parteivertreter kommandiert wurde, funktionierte sie noch immer als quasi neutrale Ordnungsmacht. Keiner wurde festgenommen. Der Vater fuhr fort:
    Das glimpfliche Davonkommen, nicht zuletzt das Ausbleiben jeder nachträglichen Untersuchung, könnte damit zusammengehangen haben, dass es zwischen dem Führer aller Deutschen und dem obersten Chef der Uniformierten zu einem Zerwürfnis gekommen war, das darin endete, dass viele der SA-Anführer erschossen wurden und diese Organisation nie mehr das Gewicht bekam, das sie noch Anfang der dreißiger Jahre hatte. Das hätte ihn damals aber nicht beruhigt, denn von solchem politischen Hintergrund wusste er zum Zeitpunkt der Schlägerei nichts. Ganz im Gegenteil, ihm sei seit diesem Zwischenfall unwohl in Berlin gewesen, und er hätte daran gedacht, nach Köln zurückzukehren. Aber so weit war es noch nicht. Die Mutter sei seit den Probeaufnahmen für den Film überzeugt davon gewesen, dass sie in die Hauptstadt gehöre, die voller Lichter und Musik war. Sie hatte, davon war der Vater überzeugt, den Zusammenstoß zwischen ihm und dem Uniformierten eher als einen Ehrenhandel angesehen, bei dem ihr Mann eine wunderbare Figur abgegeben hatte. Schon einmal war es zu einem Zwischenfall gekommen, der ähnlich hätte ausgehen können. An der Toilettentür eines großen Hotels hatte ein ehemaliger Corpsstudent den Vater an der Schulter gerempelt, ihn dann mit der Frage traktiert, ob er seine Visitenkarte sehen könne. Was diese Frage wirklich bedeuten sollte, wäre nicht eindeutig gewesen. Wollte der Angeber sich mit ihm duellieren? Der Vater ließ ihn einfach stehen.
    Hinzugekommen war ein

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