Granatsplitter
weiterer Zwischenfall, der auch die Mutter erschreckt hatte und dem Fass den Boden ausschlug. Eines Tages sei die für einige Tage in die Hauptstadt angereiste rheinisch-irische Großmutter mit dem Jungen, gerade zwei Jahre alt, außer sich nach Hause gekommen, weil ein braun Uniformierter sie angeherrscht hätte, sie solle gefälligst dem gestikulierenden und laut redenden Enkel im Kinderwagen das Maul stopfen, diesem Judenbengel. Die dunklen, langen Haare des Zweijährigen waren für den Uniformierten wohl ein zusätzlicher Anstoß. Aber der Enkel sei doch gar nicht jüdischer Abstammung, soll die fromme Großmutter ausgerufen haben. Das habe sie nicht aus Animosität gegen das Jüdische gesagt, sondern um allem, was recht und billig sei, Ausdruck zu verleihen. Gegen die Willkür des Uniformierten, gegen seine Brutalität, müsse man doch etwas tun. Ihn anzeigen! Er, der Vater, habe der alten Katholikin, die selbst in der protestantischen Hauptstadt jeden Morgen in die Frühmesse ging, erklärt, das Jüdische oder Nichtjüdische mache bei dieser Sache doch überhaupt keinen Unterschied. Es beweise nur, wie weit die Entwicklung schon gediehen sei. Als der Junge diese seltsame Geschichte vom Vater hörte, wusste er genau, dass das Wort Jude auf etwas Furchtbares hinwies. Bald darauf gingen die Eltern mit ihm zurück nach Köln.
Die Ereignisse hätten ihn aber auch in der Heimatstadt eingeholt, erzählte der Vater weiter. Das habe damit begonnen, dass kurz nachdem er und die Mutter sich dort neu eingerichtet hatten, die Stadt ihren Charakter einer militärisch neutralen Zone verlor und Truppen des Reichsheers wieder in die rheinische Garnison einzogen. Die Mehrheit der Bevölkerung habe das nur recht und billig gefunden. Er habe es auf die Dauer auch für unausweichlich angesehen, wenngleich auch als bedrückend. Denn jetzt war auf den öffentlichen Plätzen das Schauspiel der Armee zu bewundern, während er ja gerade deshalb die Hauptstadt verlassen hatte, um solchen Zeremonien zu entgehen.
Aber es hatte auch ganz andere Zeremonien gegeben, die den Jungen, jetzt sechs Jahre alt, sehr bewegten. Das war zum Beispiel in jedem Spätherbst der Martinszug. Sankt Martin wurde hier seit fränkischer Zeit als Heiliger verehrt. Martinus hieß der römische Hauptmann, der dem Bettler die Hälfte seines Mantels vom Pferd hinunterreichte. Nun kam er wieder auf einem weißen Pferd dahergeritten, bedeckt mit Helm und rotem Mantel und umgeben von vielen in allen Farben und Mustern leuchtenden Papierlaternen, die die Kinder trugen. Dazu hatten sie das Martinslied gesungen, dessen wunderbar anschwellende Melodie ihn so gerührt hatte, dass er vor Glück weinen musste. Überhaupt hatte in Köln der Winter angefangen und die langsam heranrückende Weihnachtszeit – es war die letzte vor Kriegsausbruch – mit so viel bunten Sehenswürdigkeiten in den Schaufenstern und in den Kirchen, dass er aus der Betrachtung von all dem gar nicht herausgekommen und von all diesem Lichtgefunkel und Silberglitter ganz benommen war. Besonders, wenn der Abend kam und die Straßen so vorweihnachtlich erschienen. Als er während dieser Wochen dann noch ein Theaterstück zu sehen bekam, in dem ein kleiner Junge zum Mond flog und wo es richtig schneite, sobald der Vorhang aufging, war endgültig die Christkindzeit angebrochen. Auch der Adventskalender mit seinen vierundzwanzig Türen war jeden Morgen ein Ereignis, wie wenn im Theater der Vorhang aufging. Hier in Köln kam das Christkind und nicht bloß der Weihnachtsmann. Und dessen Lieder waren noch schöner und ergreifender als das Lied von Sankt Martin.
Er hatte diese Zeit des Advents ähnlich erlebt wie später die Passionszeit. Noch war er nicht Messdiener gewesen, das Kirchenjahr noch eine märchenhaftere Erinnerung. Besonders aufregend, das hatte er nicht mehr vergessen, waren die Abende des Sankt Nikolaus, die er immer bei dem irischen Großvater verbracht hatte, auch bevor er richtig bei ihm wohnte. Nikolaus erschien wirklich wie direkt vom Himmel geschickt. Jedenfalls hatte er das damals geglaubt, und zwar deshalb, weil Nikolaus in seiner alten majestätischen Gestalt mit einer Mitra und dem goldenen Gewand erschienen war, nicht bloß als Weihnachtsmann mit roter Kapuze. An seiner Seite schlich der unheimliche Knecht Ruprecht oder, wie es auf rheinisch hieß, Hans Muff. Eine furchterregende pechschwarze Gestalt, halb Affe, halb Wolf, mit heraushängender roter Zunge und einem ekelhaften
Weitere Kostenlose Bücher