Granatsplitter
eigentlich nur, dass sie die Tapfersten gewesen seien. Er wollte das gerne glauben. Die Waffen-SS und die SS auseinander zu halten, das wurde ihm jetzt sehr wichtig. Seitdem traf er den ehemaligen Waffen-SS-Mann gerne. Wenn er mit ihm über Karl May sprach, dann war da kein Unterschied zu den Karl-May-Lesern in der Schule zu spüren, die miteinander wetteiferten, wer als Erster alle Karl-May-Bände gelesen hätte. Aber diese Kellerfreundschaft änderte nichts daran, dass er weiterhin daran dachte, dass seine Mutter und er, aber auch der Vater und dessen Freunde unter einer riesigen Menge von Menschen lebten, denen sie noch vor kurzem nicht hätten sagen dürfen, wie sie wirklich dachten. Das fand er unheimlich. Auch die Tatsache, dass kein Mensch in der Schule über das Plakat auf der Litfaßsäule gesprochen hatte. Es hing ja unübersehbar ganz in der Nähe des Schulgebäudes auf einer vielbegangenen Straße. Wenn er an dieses Plakat zurückdachte und an die übereinander liegenden und ineinander verwickelten Körper, dann kam ihm das unwirklich vor. Kein Mensch, kein Erwachsener, den er kannte, hätte das tun können. Wer hatte das getan? Er wusste es ja inzwischen, es war die SS gewesen. Hinter dem Rücken der Bevölkerung hatte sie all diese von ihnen gefangengenommenen Menschen umgebracht?
Aber wieso reagiert keiner außer der Mutter darauf? Er müsste beim nächsten Besuch mit dem Vater darüber reden. Was er manchmal, sogar beim Einkaufen im Laden, mitbekam, war etwas anderes: Die abgehärmt aussehenden Frauen sprachen davon, wie viele Menschen bei den Terrorangriffen der Angloamerikaner, sie benutzen diese beiden Wörter, umgekommen seien. Die Sieger sollten sich nicht so fein vorkommen. Sie hätten die gleichen sogenannten Kriegsverbrechen begangen. Von ihnen gehörten ebenso viele ins Gefängnis. Das sagten nicht alle, aber doch einige mit kurzen scharfen Sätzen, während sie an der Kasse warteten und sich unterhielten. Während der letzten beiden Kriegsjahre, als er in mehrere Luftangriffe geraten war, hatte im Keller kein Mensch so etwas gesagt. Das Bombardement wurde als reine Tatsache angenommen. Vielleicht auch aus Übermüdung. Überhaupt wirkten viele Erwachsene sehr müde. Die Mutter überhaupt nicht. Sie hatte sich von dem Typhus, durch den ihr in den letzten Kriegsmonaten die Haare ausgefallen waren, vollkommen erholt. Auch der Arzt wirkte nicht müde. Sie wollten bald heiraten, sobald er eine Praxis in Köln eröffnen könnte. Über ihre Nächte im Keller, als ihre Hand vom Phosphor verletzt wurde, dessen Spuren man noch immer sehen konnte, sprach die Mutter eher wie von einem Abenteuer. Eigentlich war es ja tatsächlich unmenschlich, Menschen, die keine Soldaten waren, mit flüssigem Feuer zu überschütten.
Als er zum vierzigsten Geburtstag des Vaters für zwei Tage nach Köln fuhr, wurde viel über die Vergangenheit gesprochen. Das lag vor allem daran, dass der Vater seine drei besten Freunde aus der Vorkriegszeit eingeladen hatte: Allo, den Journalisten von der französischen Zeitung Humanité , den der Vater vor zehn Jahren heimlich über die westliche Grenze gebracht hatte, Fritz, den in Amerika lebenden Bruder von Schorsch, der vor dem Haus des Vaters vom Fahrrad heruntergeschossen worden war, und Francisco aus Madrid. Sie waren extra aus Paris, New York und Madrid angereist. Es war das erste Mal, dass sie sich mit dem Vater nach dem Krieg wiedersahen. Allo und Fritz kannten sich wie den Vater vom Studium her. Francisco war ihnen vom Namen her bekannt, sie hatten ihn aber noch nie gesehen. Der Junge durfte nach dem festlichen Mittagessen dabei sein, als die drei mit einem Cognac und Francisco mit einer Zigarre über die alten Zeiten zu sprechen begannen. Auch der feine Großvater war dabei. Die Frauen saßen in einem anderen Zimmer.
Sie erzählten sich, was sie als Studenten erlebt und wie sie den Krieg überlebt hatten. Nur der Vater hatte den Krieg zeitweise im eigenen Land mitgemacht, die anderen waren entweder vorher schon weggegangen oder, wie im Falle von Francisco, kannten das Land überhaupt noch nicht. Irgendwie kam man auf die zerstörte Stadt. Die drei Freunde waren auf diesen Anblick nicht vorbereitet gewesen. Sie wussten, wie sehr gerade Köln von Anfang an bombardiert worden war. Aber das, was sie jetzt zu sehen bekommen hatten, lag jenseits ihrer Vorstellungen. Allo war mit dem Zug gekommen und hatte, aus dem Bahnhof tretend, die alte Heimatstadt nicht mehr
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