Granatsplitter
einem SS-Mann als Schwiegersohn. Warum hatte der Arztfreund der Mutter sich nicht genauer erkundigt, was für Leute das seien? Auch die Mutter fühlte sich noch weniger wohl. Es war merkwürdig, sie hatten während des Krieges, während der ganzen Regimezeit eigentlich nichts mit Nazis zu tun gehabt.
Es kam ihm nun erst wirklich der Gedanke, dass sie unter lauter Menschen lebten, die zu dieser Partei gehört hatten. Damals im Krieg hatte er den Gedanken nicht. Bei dem irischen Großvater gab es ja nur den Herrn Adrian, der immer zum Großvater kam, um politisch zu streiten. Aber der Herr Adrian war Sozialdemokrat und der Großvater Monarchist. Sie hatten immer nur über den Kaiser geredet. Wusste er deshalb nicht, welchen Geistes die anderen Menschen waren, weil er damals zu jung war? Jetzt aber, mit dreizehn Jahren, hatte sich das schlagartig geändert. Es gab nicht nur den gutgelaunten Jägermeister, es gab im Ort diese Frauen mit den verbitterten und verheulten Gesichtern. Nach außen war der Grund, dass ihre Männer in Kriegsgefangenschaft saßen, nach innen war es die Empörung, dass man ihre Männer wegen deren Zugehörigkeit zu dem vergangenen System festhielt. Das war auch so im Falle des Schwiegersohns, der bei der Waffen-SS gewesen war. Eines Tages, als er in den Keller ging, um den Pegelstand der Kartoffeln zu prüfen, saß im hellen Vorraum ein junger, sehr großer Mann mit sympathischem Gesicht. Er hatte eine grüne Uniformjacke an, aber ohne alle Kennzeichen. Überrascht stand dieser Fremde auf, lächelte und gab ihm die Hand: Er sei der Schwiegersohn und gerade aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Warum der unten im Keller saß, konnte der Junge sich nicht erklären. Hinzu kam, dass er in einem Buch las, und der Junge erkannte auf den ersten Blick, dass dies ein Karl-May-Roman war. Konnte er nicht oben Karl May lesen? Jedenfalls hatten sie sofort ein Thema. Was für ein Kenner fremder Gegenden dieser Karl May gewesen sei! Dass die Geschichten aus dem Wilden Westen am Ende doch interessanter seien als die aus dem Orient. Der Schwiegersohn machte Bemerkungen über die Engländer und Amerikaner in Amerika. Was sie den Indianern angetan hätten! Der Junge selbst stimmte nur halb bei, das sei damals gewesen, heute würden sie so etwas nicht mehr machen. Er mochte den Schwiegersohn gerne. Er hatte etwas sehr Jugendliches. Eigentlich war er wie ein großer Junge, obwohl er ja mehr als zehn Jahre älter war als er selbst.
Es war ihm aber nicht aus dem Kopf gegangen, dass der Schwiegersohn bei der Waffen-SS gewesen und deshalb auch erst ein Jahr nach Kriegende wieder nach Hause gekommen war. Er hatte noch keine Arbeit gefunden. Er war als Berufssoldat in der SS gewesen. Der Junge traf sich mit ihm auch danach immer im Keller, wo der Schwiegersohn sich mit der Zeit eine Werkstatt eingerichtet hatte. Er unterhielt sich mit ihm über den Karl-May-Band, den sie beide gerade lasen. Das war zwar sehr unterhaltsam, aber dabei konnte es nicht bleiben. Er musste ihn nach der SS fragen. Das Buch von Eugen Kogon, das der Freund der Mutter in seiner Wohnung liegen hatte, wurde noch einmal geholt. Das schreckliche Foto mit dem SS-Offizier in einem weißen Arztkittel auf dem Badewannenrand. Beim nächsten Treffen mit dem Schwiegersohn hatte er das Buch bei sich und zeigte diesem das Bild. Der Schwiegersohn sah es sich aufmerksam an, dann schüttelte er den Kopf und sagte genau denselben Satz, den seine Frau schon zuvor gesagt hatte: »Die Waffen-SS war nicht die SS.« Es sei die eigentliche Kampfkraft der deutschen Armee gewesen. Sie habe dort gekämpft, wo es am gefährlichsten gewesen sei. Sie habe viele Frauen und Kinder im Osten vor den Russen gerettet. Sie seien die Tapfersten gewesen. Deshalb hätten auch nur wenige überlebt. Wenn das so gewesen war, fragte er sich selbst, wenn der Schwiegersohn nicht log, warum hatten die Engländer ihn dann so lange festgehalten? Aus Rache, erwiderte der Schwiegersohn später. Eben weil die Waffen-SS den Engländern und Amerikanern in der Normandie so viel Widerstand entgegensetzt hatte und sie nur durch ihre vielen Flugzeuge mit ihnen fertig geworden seien.
Er musste an seinen Leutnant mit der Maschinengewehrtruppe zurückdenken. Der wollte ja auch bis zum Letzten kämpfen. Das war kein Verbrechen. Das war tapfer. Die deutschen Soldaten waren ihm ja sowieso als die eigentlich Tapferen vorgekommen. Was der Schwiegersohn jetzt von der SS erzählte, bedeutete dann
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