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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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gewesen. Der Freund sagte kein Wort über diese Dinge, und auch in der Schule wurde nicht darüber geredet. Er musste fast annehmen, dass irgendetwas dieser Art in des Freundes Familie vorgekommen war. Fast jede zweite Frau im Ort klagte, was die Engländer ihr angetan hätten: Entweder hatte der Mann seine Beamtenstelle verloren, oder er war sogar im Lager. Die meisten Männer waren in Gefangenschaft, viele in Russland, und die Frauen mussten arbeiten. Es gab aber auch das Gegenteil. Der Besitzer der Villa, in der der Arztfreund der Mutter sie untergebracht hatte, war ein gutmütiger, schwerer Mann mit einem immer roten Gesicht. Er war Bauunternehmer. In seinem Büro hingen riesige Hirschgeweihe, auch auf der Treppe zum ersten Stock, wo der Mutter und sein Zimmer lagen, gab es Bilder mit Jagdszenen zu sehen. Der Besitzer war deshalb für ihn vor allem ein Jäger. Es dauerte aber gar nicht lange, bis ihm die Mutter erzählte, dieser Mann sei der ehemalige Ortsgruppenleiter der kleinen Gemeinde gewesen, ein ziemlich fanatischer Anhänger des Regimes. Davon merkte man nichts. Der Mann hatte keine Einbußen erlitten, verdiente schon wieder gut Geld, und vor allem gab es bei der Familie immer das reichlichste Essen.
    Das war für ihn und die Mutter alles andere als selbstverständlich. Sie mussten immer wieder versuchen, bei Bauern in den umliegenden Dörfern Eier, Milch, Gemüse und sogar Kartoffeln zu besorgen. Manchmal pflückte er auch Brennnesseln, aus denen die Mutter eine gutschmeckende Suppe machte. Das Interessanteste war, wenn sie im Herbst den ganzen Tag Bucheckern im Wald sammelten, aus denen später Öl gepresst wurde. Sie gaben ganze Säcke voller Bucheckern an einer Sammelstelle ab und bekamen dafür dieses kostbare Öl, aus dem die Mutter ihm wieder Reibekuchen machen konnte. Die Kartoffeltonne im Keller war ziemlich voll, und er hatte die Gewohnheit, jede Woche zu prüfen, wie lange das noch ausreichen würde. Von diesen Sorgen schien der Villenbesitzer und Jäger völlig frei zu sein. Er hatte ein dröhnendes Lachen und war auf eine etwas laute Art immer sehr freundlich. Er musste eine ganz spezielle Art Nazi gewesen sein. Meist trug er ein grünes Hemd und einen grünen Hut mit einer kleinen, dichtanliegenden Feder. Früher war er auch eine Art offizieller Jägermeister der Gegend gewesen, doch das war nun vorbei. Aber es gab inzwischen schon wieder neue Jagden, bei denen er schoss, und das Haus roch dann Tage danach noch nach Wild. Einmal bekam die Mutter sogar ein Stück von dem, was übrig geblieben war. Ein Stück Wildschwein, das sehr scharf roch. Als sie es misstrauisch aßen und es ihnen doch ganz gut schmeckte, musste er an den Hausbesitzer denken. Der war wirklich auch als Jäger das Gegenteil von Winnetou oder Tecumseh. Er muss ein schwerer Nazi gewesen sein, sagte die Mutter. Sie nannte ihn, wenn sie alleine waren, Göring. Der Freund der Mutter, der abends häufig bei ihnen aß und dann immer wieder auf das Gut fuhr, wo seine Wohnung und die Praxis waren, sagte zu ihr, sie solle vorsichtig sein. Sie solle das Wort »Göring« nicht benutzen. Die Mutter lachte ihn dann immer aus. Er sei ein Angsthase. Überhaupt sei er viel zu unklar über die vergangenen Jahre. Ein Streitgespräch begann, das ähnlich verlief wie das zwischen ihnen und dem befreundeten Anwalt über die nächtlichen Schreie aus dem Polizeipräsidium in Köln. Jetzt ging es aber bloß um den Besitzer der Villa, in der sie wohnten. Der Freund der Mutter redete auf sie ein, sie solle etwas mehr Verständnis haben für diese Leute. Sie seien keine Verbrecher, sie hätten sich nur gemäß der Zeit verhalten. Wieso er das wüsste, dass es keine Verbrecher seien, wollte die Mutter wissen. Das ging eine halbe Stunde so, dann verebbte der Zwist. Die Mutter konnte nichts Konkretes nennen, was der Mann, den sie weiterhin »Göring« nannte, Böses getan hätte. Ihr genügte, was er gewesen war und wie er noch immer aussah. So hätten viele dieser Leute ausgesehen.
    Die Tochter des gutgelaunten Villenbesitzers, eine hübsche blonde Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren, schaute dagegen, wie ihre Mutter, immer etwas traurig aus. Der Grund war, dass ihr junger Mann in englischem Gewahrsam saß. Er war bei der SS gewesen. Das gestand die junge Frau eines Tages der Mutter, dabei betonend, es sei die Waffen-SS gewesen. Als er das Wort SS hörte, war er wie vom Schlag gerührt. Sie lebten also in einem Haus nicht nur von Nazis, sondern mit

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