Granatsplitter
bedrückte ihn das, was beim Vater besprochen worden war. Das konnte schon deshalb nicht anders sein, weil seit einem Monat nun der Nürnberger Prozess gegen die wichtigsten Überlebenden der Reichsführung an sein Ende kam. Abends konnte man im Radio Ausschnitte aus dieser Gerichtssitzung hören, die Mutter las sie am nächsten Tag in der Zeitung nach. Das Radio war für ihn eigentlich das Gegenteil von etwas, das furchtbare Dinge ausstrahlte. Er hörte gerne den Schulfunk, der immer mit einer lustigen tänzerischen Melodie eröffnet wurde, die den ganzen Morgen heiter stimmte während der Zeit, als er noch nicht in die Schule ging. Diese Melodie war aus einer Oper von Mozart, Die Zauberflöte , es war das Lied des Vogelfängers. Und was dann folgte, waren spannende, menschlich anrührende Geschichten, in dramatischer Form vorgetragen. Dass sie aus dem Rundfunk kam, gab der Stimme des jeweils Sprechenden etwas Geheimnisvolles. Es gab überhaupt häufig Stücke, in denen jemand etwas dachte oder träumte, nicht bloß etwas tat. Zum anderen bedeutete das Radio für ihn süßliche Schlagermusik, die er gerne hörte. Meistens nach dem Mittagessen. Da gab es ein Wunschkonzert mit Operettenmelodien. Er hörte das Lied »Deine Lippen, sie küssen so heiß« mit einer inständigen Versonnenheit. Wenn die Mutter dabei war, tat er so, als ob er gar nicht zuhöre. Dann klangen ihm diese Worte sehr peinlich. Das seine Phantasie am meisten anregende Lied aber begann mit dem Satz, den er überhaupt nicht mehr vergessen konnte: »Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt«. Capri war eine Insel in der Nähe von Neapel, das musste im Süden Italiens sein. Dahin müsste man einmal fahren. Wie weit war das mit dem Zug?
Das Radio war für ihn also eigentlich ein Kasten, aus dem schöne, die Träumerei anregende Worte und Lieder kamen. Im Herbst 1946 hatte der Nürnberger Prozess ein Jahr der Verhandlungen hinter sich. Göring war der wichtigste Angeklagte, den er sich gut vorstellen konnte. Er war bei den Leuten noch immer ziemlich beliebt. Vor allem deshalb, weil er gegenüber den Anklägern selbstbewusst auftrat. Die Mutter machte aber, wenn sie ihn hörte, prompt gereizte, freche Bemerkungen. Fast alle anderen Angeklagten kannte er selbst vom Namen her nicht. Das waren Generäle und politische Ratgeber der einstigen Regierung. Die Männer, die er außer Göring noch kannte, waren alle tot. Nämlich Hitler, Goebbels und Himmler. Diese Namen flößten ihm ein grässliches Empfinden ein. Er hatte inzwischen in einer Illustrierten in ausführlichen Fortsetzungsserien gelesen, wie diese ihre letzten Tage verbracht und dann Selbstmord begangen hatten. Gleichzeitig sah man Fotografien von ihren Überresten. Goebbels verkohlter Körper, aber mit dem noch erkennbaren Schädel. Himmlers Gesicht mit halbgeöffneten Lippen. Er las gleichzeitig aus reinem Zufall, ebenfalls in einer Illustrierten, über grauenhafte Morde einer Gangsterbande aus Chicago. Geschildert wurden ganz furchtbare Arten des Tötens, und eine entsetzlich düstere Atmosphäre stieg auf. Das vermischte sich mit den Schilderungen vor allem von Goebbels letzten Stunden. Wie er und seine Frau den Kindern vorher Gift gegeben hatten. Was für Gefühle hatte dieser Mensch, bevor er sich umbrachte oder als er sich entschlossen hatte, es bald zu tun? Das Wort »Zyankali« las er jetzt zum ersten Mal. Allein schon der Klang des Wortes, »Zyankali«! Wie hoffnungslos und gleichzeitig böse klang es. Grauenhaft. Das türmte sich alles zu einer riesigen Wolke unheimlicher Bilder auf. An einem Abend, als sie im Radio hören konnten, was die Angeklagten sagten, war auch wieder die Rede von den Konzentrationslagern und von dem, was dort geschehen war. Die Stimme des gerade redenden Angeklagten war unsicher und nicht gut zu verstehen. So etwas wie: Er habe das nicht gewollt und nicht gewusst. Das besprach der Junge dann sofort mit der Mutter. Er wusste ja inzwischen, wie viele Leute von den Verbrechen nichts gewusst haben wollten. Dass aber die Verantwortlichen selbst so taten, als hörten sie davon zum ersten Mal, war abstoßend. Auch Göring tat so. Die Mutter, die ja, wie er inzwischen immer wieder erlebte, wirklich nicht auf den Mund gefallen war, sagte mit spöttischer Stimme: »Im Grunde denken hier alle so.« Nein, das war nicht wahr. Zumindest der Vater und seine Freunde dachten nicht so.
Aber wie viele waren es, die so dachten? Der Abend mit der Urteilsverkündung kam. Jeder
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