Granatsplitter
wiedererkannt. Die Trümmerfelder um den Dom waren zwar zum Teil weggeräumt. Aber anstelle der schönen hohen Gebäude von früher hatten sich budenartige Hütten, meist Geschäfte und billige Einkaufszentren ausgebreitet, wie Kulissen vor meilenweiten Trümmerfeldern. Die beiden anderen, Fritz und Francisco, beklagten, dass der alte berühmte Boulevard, der anstelle der ehemaligen Stadtmauer ringförmig die Stadt umschloss, all seine Schönheit verloren hatte, ja eigentlich gar nicht mehr wiederzuerkennen war. Auch hier meist nur notdürftig aufgebaute Behausungen neben ausgebrannten Villen und verwüsteten Gärten. Der Vater begann daraufhin zum ersten Mal in seiner Gegenwart über die völlige Zerstörung seiner Stadt, auf die er wie die ganze Familie immer sehr stolz gewesen war, zu sprechen. Nicht über die Tausenden von Menschen, die hier verbrannten, sondern über das Verschwinden der Stadt selbst.
Die Freunde waren ganz offen miteinander. Der Pariser war noch immer Kommunist, der New Yorker wählte die liberale Partei, und der Madrider war ein konservativer Geschäftsmann. Letzterer hatte ein Leben gelebt, das zum Teil vergleichbar war mit dem des Vaters. Er lebte noch immer unter der Regierung eines Diktators. Der Bürgerkrieg lag mehr als zehn Jahre hinter ihm, aber er war noch längst nicht vorbei. Francisco machte keinen Hehl daraus, dass er nicht mit der anarchistisch-republikanischen Regierung einig gewesen war; aber er war auch nicht für die faschistischen Aufständischen. So waren, von den politischen Ansichten her, wie sie für ihn beim Zuhören verständlich wurden, die Meinungen etwas gespalten. Am meisten Verständnis für das rücksichtslose Bombardement hatte der Pariser. Nicht dass er gesagt hätte, er freue sich darüber, dass die Engländer und Amerikaner auf diese Weise viele deutsche Regimeanhänger getötet hatten, aber man müsse das verstehen, sagte er sehr ruhig. Es wären ja nicht bloß Parteimitglieder gewesen, die das Massenmorden gutgeheißen hatten, sondern sehr viel mehr Leute. Eben auch viele, die hier umgekommen sind. Er merkte, wie das dem Vater nachging. Und zwar deshalb, weil er seit seinem Aufenthalt in der Schweizer Klinik wusste, was unter Zustimmung oder unter mangelnder Anteilnahme der Bevölkerungsmehrheit geschehen war. Das wusste der Vater alles genau. Insofern konnte er nichts direkt dagegen sagen. Es wäre nicht überzeugend gewesen. Trotzdem sagte er, die englischen Luftangriffe seien gerade von heute aus gesehen Kriegsverbrechen. Die Frauen und Kinder, die hier ungekommen sind, seien so furchtbar gestorben wie die Opfer der Nazis. Und selbst die männlichen Erwachsenen wären in ihrer Überzahl vor allem alte Männer gewesen, die im letzten Jahr der Angriffe keinen aktiven Anteil mehr an den Geschehnissen gehabt hätten.
Das Wichtigste, das der Vater dann zu sagen hatte, war der Satz, er komme über den Verlust seiner Vaterstadt nicht hinweg. So sehr er immer gewünscht habe, dass die Engländer und Amerikaner diesen Krieg so bald wie möglich gewönnen, so wenig könne er ihnen verzeihen, was sie hier angerichtet hatten. Er fügte hinzu, der englische Marschall Tedder gehöre aufgehängt. Die Zerstörung von Köln und die Tötung so vieler ihrer Bewohner hätten den Krieg nicht verkürzt. Die drei Freunde hörten nur noch zu. Es war der Geburtstag des Vaters, und mit diesem Satz war das Gespräch über dieses schreckliche Thema zu Ende. Der spanische Freund hielt sich bei den Unterhaltungen am auffälligsten zurück. Das lag auch daran, dass er als Geschäftsmann über Politik weniger zu sagen hatte als die beiden ehemaligen Studienfreunde. Er selbst war beim Zuhören hin- und hergerissen. Einerseits war der Pariser Journalist doch wohl im Recht, wenn er behauptete, die Luftangriffe hätten sich gegen Menschen gerichtet, von denen sehr viele Schlimmes auf dem Gewissen hatten. Andererseits kann man nicht eine ganze Stadt anzünden und alles verbrennen. Sogar dann noch einmal anfliegen, um mit Sprengbomben diejenigen, die noch nicht verbrannt waren, zu töten.
Er fuhr mit widersprüchlichen Gedanken wieder zur Mutter zurück und erzählte ihr von dem Gespräch. Das wirklich Schöne am vierzigstem Geburtstag des Vaters aber war, wie eine größere Welt sich aufgetan hatte über dieses Land hinaus, das so zerstört war. Und der Vater gehörte für ihn seit jeher zu dieser weiteren Welt. Ein Gefühl des Vertrauens in die kommende Zeit kam in ihm auf. Andererseits
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