Granatsplitter
einzelne Angeklagte wurde mit seinem Namen aufgerufen. Und dann verlas die englische Stimme das Urteil »death by hanging« bei der Hälfte der Angeklagten. Nur drei wurden freigesprochen. Der neben Göring bekannteste, Rudolf Heß, bekam lebenslänglich. Der Architekt des Diktators, Albert Speer, zwanzig Jahre. Als er das Aussprechen der Todesurteile hörte, so als ob schon die drei englischen Worte die Hinrichtung vollzögen, stieg ein schicksalhaftes Gefühl in ihm auf. Eine Mischung aus Furcht und Genugtuung. Ja, auch Furcht. Denn er gehörte doch auch zu diesem Volk von so vielen Verbrechern. Death by hanging. Er kannte nicht die Ideen, die zu den Verbrechen geführt hatten. Er kannte nur die grauenhaften Bilder im SS-Staat-Buch und auf der Litfaßsäule. Er hatte das Gefühl, in einem mit Leichen gefüllten Keller zu leben.
In den folgenden Tagen und Wochen hörte er die Erwachsenen um die Mutter herum eine Menge kritischer Ansichten über den Prozess äußern. Auch diejenigen, die im Grunde die Verurteilung richtig fanden, hatten Zweifel an dem Prozess im ganzen. Andere gingen in ihrer Kritik viel weiter. Es gab auf dem Gut des Arztfreundes der Mutter eine ältere feine Dame mit immer aufgetürmtem weißem Haar und einer Nadel darin, die fauchte, die Engländer hätten es gerade nötig, sich scheinheilig aufzuspielen. Was die alles in Indien angestellt hätten! Sie hätten weise Fakire vor die Kanonen gebunden und in der Luft zerplatzen lassen. Sie hätten die Inder sowieso nicht wie Menschen behandelt. Vor allem nach dem Aufstand vor hundert Jahren. Sie kenne die Engländer als das brutalste Volk der Welt. Das merke man ihnen schon an, wenn man mit ihnen auf dem gleichen Schiff eine lange Reise gemacht habe. Sie benähmen sich auch gegenüber den Nichtengländern auf dem Schiff wie die Herren der Welt. Selbst wenn das Schiff kein englisches Schiff sei. Und dann kam sie auf die Buren zu sprechen. Die Konzentrationslager hätten doch die Engländer erfunden! Ob jemand den Film Ohm Krüger gesehen hätte, mit Emil Jannings. Da würden ausführlich die ungeheuren Grausamkeiten der englischen Kolonialarmee gegen Frauen und Kinder in Südafrika gezeigt. Davon spreche kein Mensch mehr.
Dagegen wandte die intelligente Englischlehrerin mit den Kontakten zum Rundfunk ein, es handele sich doch um einen Propagandafilm. Was da zu sehen sei, habe es in Wirklichkeit nie gegeben. Außerdem hätten die Engländer in Indien eine neue Kultur von Rechtsprechung und Verwaltung aufgebaut. Bis zum Aufstand hätten manche englischen Offiziere auch indische Frauen gehabt. Die berüchtigte Hinrichtung vornehmer Inder vor den Kanonen sei ein einmaliger Akt der Bestrafung gewesen, nachdem die Aufständischen massenhaft englische Familien umgebracht hatten. So ging es hin und her, und er war immer dabei und hörte sich das an, ohne sich selbst ein endgültiges Urteil bilden zu können. Darüber hätte man stundenlang reden können, ohne dass die eine Seite oder die andere ihre Ansicht geändert hätte. Auf der Straße und in den Geschäften merkte er beim Hinhören keine so genauen Meinungen nach dem Urteil im Nürnberger Prozess. Er hatte den Eindruck, dass die Leute, es waren ja meistens Frauen, davon überhaupt nichts hören wollten. Es war eine Art stummer Abwehr. Das war auch eine Reaktion. Aber es hätte nicht mal die gegeben, wenn man nicht schon wieder Plakate an den Litfaßsäulen gesehen hätte, jetzt auch im kleinen Ort. Eine Frau schrie dann doch im Geschäft, das sei eine Lüge der Engländer. Was die da anklebten, seien Fälschungen. Das seien zum Teil Leichen von deutschen Zivilisten, die im Bombenangriff umgekommen seien.
Waren solche Ansichten weit verbreitet? Er fühlte sich plötzlich umgeben von Menschen, die am liebsten gehabt hätten, dass das Alte weitergegangen wäre. Es war unheimlich. Plötzlich hatte er einen Einfall, der ihn nicht losließ und den er zunächst mit keinem Erwachsenen bereden wollte. Der Einfall tauchte in ihm auf, nachdem er wieder einmal mit dem SS-Schwiegersohn im Keller vor der Kartoffeltonne über Karl May gesprochen hatte und ihm der Gedanke, in diesem Haus zu wohnen, ungemütlich wurde. Warum urteilen diejenigen, die wie der Vater dachten, nicht selbst über all diese Verbrecher? Am besten wäre es doch, wenn sie sich alle zu einer Partei zusammenschließen würden? Und die anderen, auch wenn es die meisten wären, würden aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Eigentlich wäre es
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