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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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Arztpraxis nahen Gerichtsgebäude manchmal des Nachts die Schreie von Leuten zu hören gewesen waren, die dort von der Polizei verhört wurden. Darüber hätten sie doch damals gesprochen. Die beiden Freunde, die keine Parteimitglieder gewesen waren, konnten dem nicht viel entgegensetzen. Solche Vorkommnisse dürfe man nicht verallgemeinern, die Bevölkerung im ganzen hätte davon sicherlich nichts gewusst. Er, der bei dieser Unterhaltung dabei sein durfte, dachte sofort, dass die Mutter im Recht sei und die beiden Männer im Unrecht. Die Mutter hatte sich in den vergangenen zwölf Jahren sehr geändert und hielt den Vater, das wiederholte sie mehrmals, trotz ihrer Scheidung in hoher Achtung. Vor allem wegen seines damals bewiesenen Mutes und seiner immer ganz klaren Haltung gegen die Regierung. Die Mutter zeigte jetzt wieder die gleiche Entschiedenheit, mit der sie während des letzten Kriegsjahres in das Internat gefahren und dort gegen die grausamen Schüler vorgegangen war.
    Es war nicht so, dass die freischweifenden Vorstellungen zu diesem Thema ihn völlig beherrschten. Dafür gab es zu viel anderes, spannenderes in der Schule und mit Freunden. Vor allem auch ganz andere Bücher: die Indianerromane von Karl May und Fritz Steuben spielten dabei eine besondere Rolle, wobei sich Winnetou, der Häuptling der Apachen, und Tecumseh, der Berglöwe, zu einer einzigen dramatischen Figur vermischten, die ihn auf den Gedanken brachte, ein Indianerdrama in Versen zu schreiben, in einem Versmaß, dessen Namen er nicht kannte, das er sich aber aus Klassikerbänden in der Bibliothek des Vaters angeeignet hatte. Die Engländer kamen in den Büchern der beiden Schriftsteller unterschiedlich vor: In dem einen Fall waren es entweder schrullige Einzelgänger oder aber vom Geld besessene Geschäftsleute, im anderen Fall adlige Offiziere, kühn, aber kalt. Er wurde also wieder auf das Thema Engländer gestoßen und lernte, dass sie in Amerika damals ein riesiges Gebiet unter ihre Herrschaft gebracht hatten. Tecumseh hatte den letzten Versuch unternommen, die Nachfolger der Engländer, die sich nun Amerikaner nannten, durch Vereinigung aller Stämme von den großen Seen bis zur Halbinsel Florida wieder aus dem Land zu drängen. Hatte die deutsche Regierung vor dem Krieg eigentlich gewusst, wie mächtig England noch immer war? Auch nachdem sie Amerika verloren hatten? Dass sie sich wieder mit den Amerikanern versöhnt hatten? Jedenfalls besaß der indianische Häuptling sowohl in Gestalt Winnetous als auch Tecumsehs einen Glanz, aus dem er einen großen untergehenden Helden machen wollte. Die Tecumsehgeschichte war eigentlich noch geeigneter. Es herrschte eine düstere Stimmung dort in den Wäldern am Ohio. Das Wort von den »dark and bloody grounds« merkte er sich auf Englisch. In dieser unendlichen Einsamkeit trat der rote Häuptling, den Tomahawk in der Hand, aus dem Wald und blickte auf die Prärie, wo er die weißen Männer vermutete, seine Todfeinde.
    Diese Idee, die ihn viele Monate umtrieb, wurde noch dadurch verstärkt, dass er mit seinem besten Schulfreund ganze Nachmittage lang durch die nahen Buchen- und Eichenwälder zog, um sich an Rehe und Hirschböcke anzuschleichen. Er hatte sich aus einer mächtigen Baumwurzel einen Tomahawk ganz nach der Beschreibung von Tecumsehs Tomahawk gemacht. Den Schaft hatte er mit silbernen Nägeln beschlagen. Sie spielten nicht mehr Indianer wie die jüngeren Jungen, aber sie stellten sich vor, dass sie in ein Abenteuer verstrickt seien. Wie in den Büchern tauchte das Wild nur selten auf, aber wenn, dann gab es eine innere Spannung ohnegleichen. Es ging darum, sich so nah wie möglich heranzuschleichen, tief geduckt und geräuschlos, um auf Wurfnähe heranzukommen. Und auch der Wurf musste sorgfältig vorbereitet sein, schon die Hand, die zum Schwung erhoben wurde, konnte das Tier erschrecken und in die Flucht treiben. Er warf mit aller Konzentration. Es war ein Moment äußerster Anspannung. Aber er hatte nicht getroffen. Das Reh war zunächst stehengeblieben. Erst als der Tomahawk dicht an seinem Kopf vorbei in den Boden einschlug, sprang es davon. Die Zeit der Granatsplitter war endgültig vorbei.
    Er sprach mit dem Freund nie über das, was er auf der Litfaßsäule und in dem SS-Buch gesehen hatte. Er befürchtete, das könnte ihre Freundschaft in Gefahr bringen, weil auch dessen Vater in solche schrecklichen Handlungen verwickelt gewesen sein könnte. Vielleicht war er Parteimitglied

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