Granatsplitter
der Schule wiedersah. Es war ein schöner Septembertag, an dem der Frühnebel erst langsam wich, sodass die Schulgebäude noch lange in einem verschleiernden Dunst in der freien Landschaft zwischen der steil abfallenden Schlucht und dem hinansteigenden kahleren Hügel lagen, hinter dessen Höhe sich eine moorige wilde Landschaft ausbreitete, nur ab und zu von in Gruppen stehenden Tannen unterbrochen. Das Schulgebäude, ein schlossartiger Bau mit einem Dach aus Holzschindeln und mit einem Zwiebelturm, stand als einsames Zentrum an der Landstraße, auf der nur selten ein Auto hinunterfuhr in Richtung der badischen Universitätsstadt oder in Richtung des Bodensees. Wie er so dastand, erinnerte er sich an die Szene, als Agamemnon auf dem Streitwagen in den Gartenhof einfuhr und Klytämnestra, die blutige Axt in der Hand, auf den Stufen zum Hauptgebäude stand, hinter ihr die geöffnete prächtige Holztür. Ein unvergessliches Bild. Obwohl die Szene jetzt verschwunden war, sah er in den schönen Gemäuern, dem geometrischen Garten und der tempelartigen Steinlaube wieder das Zeichen des unheimlichen Theaterstücks. Er hatte damals an den freien Nachmittagen das Kapitel Agamemnon und Klytämnestra in Schwabs Griechischen Sagen gelesen. Ihm war der Atem stehengeblieben. Jetzt las er das originale Drama in deutscher Übersetzung. Er entdeckte dabei, dass der Schulleiter, der damals für die Aufführung verantwortlich war, das Stück auch selbst übersetzt hatte. Sein Name stand auf der ersten Seite der Ausgabe.
Der Vater hatte ihm gesagt, dass der alte Direktor, dieser irgendwie immer so bewegt wirkende Altphilologe, eine Art idealistischer Nazi gewesen war. Ob das eine mit dem anderen zusammenhing? Dass dieser vom griechischen Altertum lebende Mann gleichzeitig täglich vor dem Mittagessen die letzten Nachrichten von der Front in der Normandie mit einer Stimme vorgelesen hatte, als ob es ernste Gedichte seien? Er brauchte nur einen kleinen Anstoß, über solche Zusammenhänge nachzudenken, ohne dass er dem lange nachgehangen hätte, trotz der furchtbaren Dinge, die er über den SS-Staat erfahren hatte. Das alles verhinderte nicht den Eindruck, der ihn nun überfiel beim Anblick des Internats: dass er sich an einem altgriechischen Ort befände, in einer altgriechischen Landschaft. Er ging seit diesem ersten Tag im wiedergeöffneten Internat, so schien es ihm jedenfalls, auf antikem Boden. Dieses Gefühl von etwas Außerordentlichem, das ihn fortan umgab, nährte sich nicht bloß aus der Erinnerung an die Aischylosaufführung im Schulgarten. Auch das Innere des Gebäudes hatte eine von allem ihm bisher Bekannten vornehm abgehobene architektonische Ausführung, die ihn fesselte. Das würde seine Zukunft sein. Vor den weißgetünchten Kalkwänden standen hier und dort weiße marmorne Säulen und auf ihnen marmorne Köpfe griechischer oder römischer Denker. Der Umstand, dass er zunächst nicht im Haupthaus, sondern in dem für jüngere Schüler vorgesehenen kleinen und nicht besonders schönen ehemaligen Gasthaus wohnte, machte die nachmittäglichen Gänge im Haupthaus zu Entdeckungsreisen. Dabei war für das antike Gefühl, das sich in ihm fortwährend ausbreitete, die eigentlich nur für die Pädagogen vorgesehene kleine Bibliothek neben dem Lehrerzimmer besonders wichtig. Es war ein ganz in dunkelgrünem Holz ausgelegtes Zimmer, das wie ein gelehrtes Versteck aussah, auch hier stand eine weiße Säule mit dem Kopf eines berühmten griechischen Philosophen darauf.
Was es damit auf sich hatte, war ihm zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht klar. Das Zimmer stand nämlich, wie er schließlich herausfand, voll von Kästen mit Zetteln, auf denen Wörter und Begriffe aus dem Werk des griechischen Philosophen standen, der sich Platon nannte. Der neue Leiter des Internats, der während des Krieges noch als Griechischlehrer unterrichtet, sich dann aber aus politischen Gründen zurückgezogen hatte, hatte hier ein sich stetig vergrößerndes Archiv über die zentralen Wörter jenes Philosophen angelegt, von dem sie bald mehr zu hören bekamen. Natürlich war dieser geheimnisvolle Ort nicht ohne weiteres zugänglich. Nachdem er herausgefunden hatte, dass in diesem Raum etwas Wichtiges vor sich ging, hatte er es näher erkundet. Er entdeckte, dass die jungen Archivare, die für die Zettelkästen zuständig waren, den Schlüssel zu diesem Raum nicht immer bei sich trugen, sondern in eins der Fächer vor der Tür der grünen
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