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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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sich etwas Aktives vor. Und wenn es nicht so möglich war, wie er es dem Vater entwickelt hatte, dann eben anders. Man konnte gar nicht anders leben als in einer ständigen Erwartung, was alles passieren würde, passieren möge.
    Inzwischen stand ihm sowieso eine große Veränderung bevor. Der Vater hatte entschieden, dass er wieder in sein altes Internat kommen sollte. Es war Herbst 1947. Die Mutter brachte ihn in den Süden. Es wurde kein großer Abschied aus der alten Schule und der Villa des Jägermeisters am Rande des Waldes. Aber es war schon sehr aufregend, obwohl er genau wusste, wohin es ging. Er war doch drei Jahre zuvor noch dort gewesen! Die Mutter und er übernachteten mit dem großen Koffer, in den die notwendigsten, vom Internat vorgeschriebenen Sachen gepackt waren, in der Vaterstadt am Rhein. Nicht in der Junggesellenwohnung des Vaters, in der dieser noch immer lebte, sondern im Haus des irischen Großvaters. Die Eisenbahnfahrt in die Stadt im Schwarzwald im Tal unterhalb der Schule würde elf Stunden dauern. Sie würden erst abends ankommen und mussten dort übernachten, bevor sie am nächsten Tag hinauf ins Internat fuhren. Als er die Umgebung des Kölner Bahnhofs wiedersah und der Zug sich früh morgens an den eng heranrückenden Mauern des Bahnhofsviertels langsam vorbeifahrend in Bewegung setzte, sah er noch einmal die Verwüstung. Zum Teil waren es nur noch ausgebrannte Ruinen, zum Teil notdürftig hergerichtete Wohnungen. Die Toiletten und Badezimmer gingen alle zum Bahngleis hin, und er sah in fast jedem dieser Zimmer ein Licht brennen. Alle gleichzeitig. Es war halb sieben morgens, denn sie hatten den frühen Zug wählen müssen, um nicht zu spät anzukommen. Als er diese erleuchteten Badezimmer und Klos sah, dachte er, dass jetzt sich alle Bewohner zur Arbeit fertigmachten. Alle gleichzeitig. Er sah Männer vor Spiegeln in winzigen Badezimmern, wie sie sich rasierten. Alle gleichzeitig. Er fand das sehr deprimierend. Niemals einen Beruf haben, bei dem man so früh, zur gleichen Zeit, wenn alle andern aufstehen, aufstehen musste.
    Sie kamen nach der Fahrt durch die wunderbarsten Gegenden am Rhein mit einer nur leichten Verspätung in der Landeshauptstadt Freiburg im Süden an. Mit einer Thermosflasche voll Tee und dem weißen Brot der Engländer hatten sie den Tag gut überstanden. Sie waren jetzt in der französischen Besatzungszone, und das merkte man sofort. Auf dem Bahnhof und der Straße, die ins Innere der Stadt führte, wimmelte es von französischem Militär. Einfache Soldaten, auch Negersoldaten, und viele Offiziere. Ihre bunten Uniformen wirkten in einem so striktem Gegensatz zu den englischen oder auch deutschen, dass man denken konnte, dass es gar keine richtigen Uniformen wären. Sie waren überladen von verschiedenen Farben, die Achselklappen strotzten vor prächtigen roten oder goldenen Zusätzen. Epauletten. Vor allem aber die Offiziere hatten eine auffällige Art sich zu bewegen, zu gehen und zu sehen. Er sagte zur Mutter: Die benehmen sich aber richtig eitel! Er fand das lächerlich. Die hatten doch gar nicht den Krieg gewonnen! Die waren doch davongelaufen! Und nun das. Er war auch enttäuscht. Immerhin wusste er ja, wie freundschaftlich gesonnen der Vater und der Großvater den Franzosen waren. Wie gut sie französisch sprachen und dass sie auch in Frankreich gelebt hatten. Aber so etwas, dieses prunkvolle Benehmen, so etwas hatte er nicht erwartet. Wenn einer der Offiziere auf dem Trottoir der Stadt ging, oft mit einem Stöckchen unter dem Arm, hatte man den Eindruck, man müsse ihm Platz machen.
    Die Mutter fand kein richtiges Hotel mehr, weshalb sie mit anderen Leuten zusammen in einem alten Luftschutzbunker in der Nähe des Bahnhofs übernachten mussten. Aber das machte ihnen nichts aus. Die Erinnerungen an die Bombennächte kamen mit einem Male, aber umso schöner das Gefühl, dass keine Bombennacht bevorstand. Als sie am nächsten Tag mitten durch Felsen und rotviolett blühende Büsche das Höllental hinauf fuhren, da veränderte sich für ihn allmählich, aber ganz und gar die Welt.

II
     
     

AUF ELYSISCHEN FELDERN
    Das Internat hatte sich nicht verändert. Es war noch immer so, wie er es in Erinnerung hatte. Hier hatten sie gemeinsam die schönen Lieder gesungen, und hier hatte ihm der Vater zum ersten Mal erklärt, welch ein verbrecherischer Staat es sei, in dem sie lebten. Er erinnerte sich an die widersprüchlichen Gedanken und Gefühle, als er das Gebäude

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