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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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Bibliothek legten. So stand er ganz alleine in dem geheimnisvollen Raum. Er war sich ziemlich sicher, dass er alleine bleiben würde. Die Aufregung vor einer Entdeckung gab dem Empfinden, auf heiligem Boden zu stehen, die Würze. Noch hatte er keine wirkliche Ahnung von der Bewandtnis der Kästen, sondern sah und las vor allem die Namen all der altgriechischen und lateinischen Bücher in den Regalen. Er fragte sich, ob er das jemals wirklich lesen und verstehen würde. Es war ein Gewicht, das sich auf ihn senkte, denn er lernte ja schon seit vier Jahren Latein und begann nun mit dem Griechischunterricht. Aber von dem, was er in dem einen oder anderen herausgezogenen Buch las, verstand er keinen Satz, höchstens das eine oder andere Wort. Es war ein drohendes Gewicht, das sich beim Anblick dieser Bücherreihen auf ihn senkte. Nicht weil er spürte, wie viel er nicht wusste, wie groß das Ausmaß dessen war, was man Wissen nannte. Nein, das war es nicht. Vielmehr war es das Antike daran, etwas Düsteres und Schönes. Etwas, das er fürchtete, das ihn aber gleichzeitig anzog. Von Anfang an hatten die griechische und die lateinische Sprache eine bestimmte Würde für ihn ausgestrahlt. Im Lateinischen war es das Kurze, Knappe. Im Griechischen das Geheimnisvoll-Phantastische, das ihn so unwiderstehlich anzog.
    Der Griechischlehrer war überaus imponierend. Er schrieb zunächst in griechischen Buchstaben Wörter an die Tafel, die er dann auf Deutsch erklärte. Es war ein Ereignis. Die einfachen deutschen Wörter, Substantive und Verben, explodierten auf der Tafel zu abenteuerlichen Zeichen, die fast so besonders und fremdartig wirkten wie die Granatsplitter damals. Die Jungen lernten das griechische Alphabet und fingen an, erste Verben zu konjugieren. Eigentlich war das ja etwas vollkommen Konventionelles, eine logisch-grammatische Technik, die man auf alle Verben jeweils unterschiedlich, gemäß ihres Stammes, anzuwenden hatte. Aber dieser Lehrer, der aus einer alten Philologenfamilie kam, tat so, als ob es etwas Unentdecktes zu entdecken gäbe. Schon im ersten Jahr schrieb der Griechischlehrer den Infinitiv des Verbs »melden«, »
’αγγέλλειν
«, an die Tafel. Dann den Imperativ infinitiv dieses griechischen Wortes, der wieder »
’αγγέλλειν
« hieß. Dann aber gleich noch ein Wort davor und ein Wort danach, nämlich »
῏Ω ξεῖν’
« (»Fremder«) und »
Λακεδαιμονίοις
« (»den Lakedämoniern«). Sie verstanden also: »
῏Ω ξεῖν’
,
’αγγέλλειν
Λακεδαιμονίοις
«. Das war ohne Schwierigkeiten klar. Die beiden folgenden Wörter machten den Satz aber erst zum Träger seiner berühmten Botschaft: »Du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl« – »
ὄτι τῇδε κείμεΘα τοῖς κείνων ῥήμασι πειτΘόμενοι
«. Das schrieb der imponierende Griechischlehrer also auch an die Tafel. Die bisher behandelte Grammatik überschreitend, wurden sie so in neue Partizipformen eingeführt, die sie noch nicht geübt hatten. Sie sollten ihre Fähigkeit erkennen, Sprache zu lernen. Wie sie schon einen der größten Sätze des klassischen Griechentums mit den geringen Kenntnissen, die sie hatten, verstehen würden. Sie lernten diesen Satz auswendig. Nie würden Helden mehr in solch einem Tonfall, solch einer Tonfülle sprechen. Der Lehrer hatte die Gabe, nicht nur die Bedeutung, die die deutsche Übersetzung überstieg, klar zu machen. Er ließ sie diese Vokale und diese Konsonanten im richtigen Rhythmus aufsagen. Seitdem erschien ihm das Griechische als die Sprache der Dichter und Helden. Nicht etwas, das vergangen war, sondern etwas, das ihn alltäglich begleiten würde. Es war die Vorstellung von einer wunderbaren fremdartigen Sprache, die seine seit dem Krieg angeregte Phantasie von Außerordentlichem oder Gefährlichem befriedigte. Die roten und blauen Rücken der Klassiker sprachen zu ihm. Die Antike setzte sich immer mehr in ihm fort.
    Er war etwa eine halbe Stunde in der grünen Bibliothek allein, als plötzlich ein junger glatzköpfiger Mann, sehr geschäftig und sicher sehr gelehrt, hereinkam, der alle griechischen Wörter und ihre Entsprechungen in deutscher Sprache zu kennen schien. Er war Referendar im Schulamt, arbeitete aber jetzt für eine gewisse Zeit für das Philosophiearchiv des Schuldirektors. Er machte auch kein großes Theater über den Eindringling, ganz im Gegenteil, er erklärte ihm, so gut

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