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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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es ging, um was es sich in den Kästen genau handelte und warum es wichtig sei für das richtige Verständnis des berühmten Philosophen, der Platon hieß. Es war nicht ganz klar, ob der Archivar nur die Ansicht des Direktors wiedergab oder aber selber von der Bedeutung der Zettelkästen überzeugt war. Der Schuldirektor jedenfalls war nach dem unheimlichen Stück von Aischylos, nach der antikischen Atmosphäre des Schulgebäudes sowie der Wirkung der altgriechischen Wörter eine Art Symbol für die Antike geworden. Und zwar sowohl seine Gestalt und sein Gesichtsausdruck als auch seine Art zu sprechen. Das fing damit an, dass sein Gesicht den Jungen an die Züge eines Fauns erinnerte, der in seinem Griechischlesebuch abgebildet war. Eines intelligenten Fauns. Zuerst dachte er: Du hast dieses seltsam lächelnde und gleichzeitig gefährlich wirkende Gesicht doch schon einmal gesehen. Es war doch das Gesicht jenes Philosophen, der in der Bibliothek auf dem Sockel stand! Auch dieses philosophische Faunsgesicht mit den breiten Backenknochen und der stumpfen Nase hatte er in seinem griechischen Lehrbuch gesehen. Und dann das Lachen des Direktors! Dieser musste die Pfeife aus dem Mund nehmen, wenn es aus ihm herausbrach. Es war ein fast gewalttätiges Lachen, wobei er sein starkes Gebiss zeigte. In diesem Lachen brach etwas tief Verborgenes hervor, dessen war der Junge sich sicher. Es war furchterregend. Die Demonstration einer ungeheuren Selbstgewissheit. Er wusste in diesen ersten beiden Jahren nicht wirklich, was der Direktor dachte. Nur, dass er viel dachte, das war klar.
    Das wurde auch bei den gelegentlichen Reden deutlich, die der Direktor an die versammelte Schülerschaft richtete. Tiefernst sprach er dann im Namen der Schule von einer besonderen Gemeinschaft, der man sich würdig zu erweisen hatte oder auch nicht. Oder auch nicht. Es war bedrohlich. Diese Ansprachen, bei denen man tatsächlich Angst bekommen konnte, fanden im großen holzgetäfelten Esssaal statt, wo etwa hundertsiebzig Schüler und Schülerinnen an langen Tischen frühstückten, zu Mittag aßen und das Abendessen einnahmen. Vorher wurde gebetet. Wenn eine solche Rede des Direktors anstand, hatten die Jungen einer höheren Klasse den Auftrag, die Tische zur Seite zu räumen und den Saal in einen Hör- oder Konzertsaal zu verwandeln. Letzteres geschah sowieso fast jeden Samstag, wenn die Frau des Direktors, eine berühmte Pianistin, ebenfalls berühmte Kollegen einlud, vor der ganzen Schüler- und Lehrerschaft Klavier, Bratsche oder Geige zu spielen. Es waren die Höhepunkte der Schulwoche.
    Wenn also der Direktor ohne das faunische Lachen von einer bühnenartigen, höheren Ebene des Esssaals herab die versammelte Schülerschaft ansprach, dann hatten seine Stimme und sein Gesichtsausdruck sich vollkommen verändert. Der Anlass solcher Ansprachen war zunächst der Beginn einer neuen Schulsaison im Herbst, Frühjahr und Sommer. Dann benutzte er die Wörter wie Fesseln, die das Verhalten und das Denken regelten. Das wurde sehr viel eindringlicher, wenn der Anlass seiner Rede die Entlassung eines Schülers oder einer Schülerin aus disziplinarischen Gründen war. Dann senkte sich auf die versammelten Klassen eine Art Gerichtstag. Als er das zum ersten Mal mitbekam, war ihm nicht klar, was die Ausgestoßenen denn Schlimmes getan hätten. Er hörte nur den unheilvollen Satz des Direktors: »Etwas ganz Furchtbares ist geschehen.« Irgendwie hörte er das gerne. Es passte zu der Stimmung, die er in der grünen Bibliothek, vor den antiken Gips- oder den Marmorköpfen und vor dem Wort »agellein« empfunden hatte.
    Dass es auch im Alltag ernst, ja gefährlich werden könnte, das war das Aufregende an diesen Urteilsreden des Direktors. Obwohl es eine ganze Reihe von Schulgesetzen gab, gegen die man verstoßen konnte, ging es bei diesem Gerichtstag und eigentlich auch allen folgenden immer um dasselbe: dass ein Schüler und eine Schülerin in einem abgeschlossenen Raum, etwa einem selten benutzten Klassenzimmer oder aber in einer der Scheunen in der nahen Umgebung entdeckt worden waren. Er selber hatte ja keine Erfahrungen sammeln können. Die Beichtstuhlepisode machte sich immer noch durch ein unbestimmtes Schuldgefühl bemerkbar, und auch die Erinnerung an die Aufforderung, in der Scheune dabei zu sein, wenn eine Bauernmagd und ein junger Knecht vor den Kindern zeigen wollten, was sie noch nie gesehen hätten, steckte nach wie vor in ihm: Aber das alles hatte

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