Granatsplitter
fand.
Auch das furchtbare Bild von der Litfaßsäule änderte daran nichts. Dass er nichts dagegen hatte, dass das Mädchen diese Jacke von früher trug und er daran sogar etwas Einschmeichelndes fand, kam daher, dass er sich in dem unklaren Schweben zwischen allen Sicherheiten nur noch nach etwas Weichem, Nachgebendem sehnte. Aber er bekam es nicht. Er konnte kein Mädchen anfassen. Wie denn? Ein Ausweg waren die Aufsätze über die Naturbeobachtungen, die sie schreiben mussten. In der Hitze im Gras zu liegen und die allerkleinsten Bewegungen der Gräser zu beobachten, wenn so viele kleine Tiere, auf die er nie zuvor geachtet hatte, kamen und gingen. Nicht allein die Ameisen, sondern verschiedene Käferarten, blaue, grüne, braune, dann aber auch Eidechsen und Blindschleichen. In der Hitze des Daliegens und Aufschreibens von allem, was er sah, fand er eine Art Frieden. Ihm wurde jetzt bewusst, wie sich sein Leben verändert hatte, seit sie das kleine Dorf verlassen hatten. Wie er zur gleichen Zeit beunruhigt worden war durch das Plakat auf der Litfaßsäule mit den Leichenbergen und durch den Anblick des Mädchens in der schwarzrotgrünen Jacke. In dem einen Falle brachte die Beunruhigung zuerst eine Kette von Gedanken, die sich als richtig oder falsch herausstellen mussten, im anderen Falle zuerst eine Flut von Gefühlen, die sich körperlich auswirkten. Aber diese beiden Zustände vermischten sich in diesen Wochen zu einem einzigen Gefühl, dass sich etwas Schicksalartiges für ihn ereignete und dass das Leben eine ständige Bewegung in eine Zukunft hinein bedeutete. Das hatte er vorher noch nicht empfunden. Vorher war alles ein Tag. An den vielen Tagen und Wochen vorher war Unterschiedliches geschehen, das er sich merkte. Aber erst jetzt hatte er das Empfinden, dass im Leben sich etwas ereignen kann, das alles, was vorher war, in ein vollkommen anderes Licht taucht. Auch wenn beides ineinander übergeht, sodass man sich meistens der Trennung von beidem nicht bewusst ist. Die Litfaßsäule und das Mädchen hatten nichts miteinander zu tun. Aber sie gehörten beide zusammen, weil sie sein Gefühl hervorbrachten, etwas sehr Wichtiges sei geschehen und geschehe noch weiter.
Nachdem er verstanden hatte, dass es nicht möglich sei, Mörder aus der vorangegangenen Zeit zu töten, um die eigene Zeit von ihnen zu befreien, gewöhnte er sich an den Gedanken, dass alles gemischt war. Es gab nie das eine oder das andere. Das konnte man sich als allgemeine Regel merken. In diesem besonderen Falle aber schwappte die Düsternis der Fotografien auf der Litfaßsäule und in dem SS-Buch über in seine jetzige Zeit, in sein Gefühl von jetzt. Aber es war keineswegs immer da. Es kam und ging. Wenn er es vollkommen vergessen hatte, kam es plötzlich durch einen Zufall wieder. Dass er das Mädchen in der schwarzrotgrünen Jacke so ansehen musste, hing ja auch damit zusammen. Diesmal aber wie eine Beruhigung. Es gab etwas von früher, das nicht erschreckte, sondern im Gegenteil angenehm, schön, anziehend war. Das Frühere konnte weitergehen, auch ohne ihn zu bedrücken. Also brauchte es nicht ganz ausgemerzt zu werden. Es durfte nur nicht überhand nehmen. Er meinte, nicht überhand nehmen in seinem Gefühl. Er musste denken dürfen, dass etwas ganz Neues jetzt anfangen würde. Sonst geriete er in einen Zustand des Traurigseins, der immer weiterginge.
Er hatte den Eindruck, dass sehr viele Menschen in so einem Zustand lebten. Der Krieg war zwar schon zwei Jahre vorbei, aber die große Freude, die er beim Vater erlebte, dass jetzt das Leben erst wieder anfange, die sah er in den meisten Gesichtern nicht. Darauf kam er erst allmählich. Er selbst und sein Freund hatten keinen Grund zum Traurigsein. Ihre Streifzüge durch die Wälder und ihre Gespräche kannten keine Grenzen der Freude. Aber sonst sah er das Traurigsein. Das Merkwürdige daran war, dass keiner es direkt sagte. Wahrscheinlich wussten sie es gar nicht: die stille Deutschlehrerin, die Frau des Villenbesitzers, die anderen Frauen im Ort. Wahrscheinlich war das überall so. Er sah es, aber er sah keine Bedeutung darin. Er erklärte es sich nicht. Wäre nicht das Verschwinden Gottes aus seinem Leben gewesen, dann hätte er überhaupt nicht gewusst, dass es Traurigsein gibt. Denn das Plakat auf der Litfaßsäule hatte ihn ja nicht traurig gemacht, sondern im Gegenteil in ihm den Willen zu einer Veränderung hervorgerufen. Traurigkeit hatte etwas Passives. Er aber stellte
Weitere Kostenlose Bücher