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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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unbedingt aus der Zeit des Regimes, sondern aus der Vergangenheit überhaupt. Aber er wusste ja, dass es eigentlich ein Uniformstück war. Dachte sich das Mädchen etwas Besonderes dabei? Sie kam immer den Weg aus dem Wald herunter und hatte ein sehr schönes, großflächiges, verschlossenes Gesicht. Das Großflächige des Gesichts gab zusammen mit dem sich in der geschnürten schwarzrotgrünen Jacke abzeichnenden Busen den Eindruck von etwas ihm weit Überlegenen. Sie war sowieso sicher zwei Jahre älter. Jeden Tag kam sie diesen Weg, und jeden Tag sah er sie an und dachte, sie weiß ja gar nicht, dass ich sie besonders ansehe. Wegen ihrem Gesicht und ihrem Busen und wegen ihrer schwarzrotgrünen Jacke. Das zusammen gab ihm eine Mischung aus etwas Geheimnisvollem und Alltäglichem zugleich ein. Der Busen war das Alltägliche, das Gesicht und die Jacke von früher waren das Geheimnisvolle. Oder das Geheimnis, das er in sie hineinsah. Er hatte sich seit einiger Zeit häufiger schon dabei überrascht, dass er beim Anblick eines schönen Gesichts eines Mädchen etwas Geheimnisvolles empfand. Dann aber, wenn das Mädchen etwas sagte, verschwand alles Geheimnis. Das war so ähnlich wie mit der Kirche. Die hatte ja auch aufgehört, den geheimnisvollen, wunderbaren Eindruck auf ihn zu machen. Aber er sehnte sich weiter nach solchen Eindrücken und suchte sie jetzt in dem Gesicht eines Schulmädchens, das er wahrscheinlich nie kennenlernen würde. Er wusste nicht einmal, in welche Schule sie ging. Und er hörte sie niemals reden. Es war immer der gleiche Anblick, wie sie, meist in der schwarzrotgrünen Jacke, mit ernstem Gesicht dahinging. Solche Eindrücke verschwammen zu diffusen Stimmungen und hatten überhaupt nichts zu tun mit den Gedanken, die er sich über die Gedanken der anderen Menschen machte.
    Was er davon bei den Schullehrern mitbekam, war, dass sie alle die neue Zeit bejahten, indem sie sehr fleißig auftraten. Das galt besonders für den Religionslehrer, der ein Priester war und den er überhaupt nicht mochte, ohne dass der ihn jemals im Beichtstuhl gehabt hätte. Er mochte nicht, wie er über die Religion sprach. Das hatte gar kein Geheimnis. Das war wie eine Reihe von Regeln. Er sagte dem Priester natürlich nicht, dass er Gott verloren hatte. Er hörte aber genau zu. Sie machten jetzt mehr Katechismus, weniger Bibel. Und da kam das Wichtigste der ganzen katholischen Religion vor, die Heilige Wandlung. Nachdem er sich Gott nicht mehr vorstellen konnte, fand er die Erklärung, wie Brot und Wein in den Leib und das Blut des Gottessohns verwandelt würden, eigentlich gar nicht zu verstehen. Er stellte auch eine ungläubige Frage. Der Priester wurde daraufhin ungehalten, wusste aber keine andere Antwort zu geben als die, dass das eben so sei. Man könne das eben nicht verstehen, man müsse es glauben. Sobald man an die Stelle des Glaubens das Verstehen setze, würde alles schwierig. Er hätte gerne von dem Priester gehört, was eigentlich der Glaube sei. Die Antwort bekam er nicht von diesem, sondern von der sehr feinen Deutschlehrerin: Glaube sei eine Gnade. Gnade hieße eine unerklärbare Gunst vom Himmel.
    Wenn das so war, hatte er keine Gnade. Bis vor kurzem glaubte er ohne weiteres, ob ohne oder mit Gnade, das wusste er nicht. Jetzt aber war klar, dass er ohne göttliche Hilfe leben müsste. Das war ein neues Wissen, das ihn veränderte. Von keinem Erwachsenen konnte er Hilfe erwarten. Der Vater war kein frommer Mann, die Mutter ging auch nicht mehr in die Kirche. Und den Lehrern wagte er das, was er dachte, nicht zu sagen: dass die ganze Welt, nicht nur er selbst, leer war von Gott. Das Schöne von früher war ausgeleert aus ihm. Das alles geschah zur gleichen Zeit, als er das Mädchen in der schwarzrotgrünen Jacke ständig sah. Er fing an, sie sich vorzustellen, wenn er abends im Bett lag, und machte das, was er längst herausgefunden hatte und worüber die Mutter, die das entdeckte, sehr zornig wurde. Das wäre eine Todsünde, sagte sie, weil er damals, beim ersten Mal, noch an Gott glaubte. Außerdem sei es gesundheitsschädlich. Aber er brauchte das jetzt unbedingt. Anstelle der seligen Gefühle in Gott jetzt die seligen Gefühle in dem Bild von dem Mädchen. Er brauchte etwas Großes, Weites, in das er sich hinein begeben könnte, nachdem er in dem Zustand des Unglaubens kein Glück gefunden hatte. Es war ein Zustand des ewigen Vor-sich-hin-Träumens, das keinen Halt an einem bestimmten Gedanken

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