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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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noch immer zur Erklärung der Not genannt, obwohl die jetzt schon vier Jahre her war. Bis zu dem Vorwurf, ihr hier seid ja alle reich, war die Woche höflich verlaufen. Jetzt kam man zur Sache. Er ließ erst die beiden Mitschüler antworten, dann kam er selbst an die Reihe. Als er – seine Erregung, ja seine Wut gerade noch im Zaum haltend – versuchte, den besonders aggressiven Schüler der Gegenseite in ein Gespräch über die individuelle Seite des Menschen zu verwickeln, stieß er auf kalte Ablehnung. Nein, Individualität, wie er sie verstehe, gäbe es gar nicht! Das sei ein bürgerlicher Irrtum. Das sei falsches Bewusstsein! Mein Gott, wie vernagelt dieser Schüler war! Was für ein Trick, von falschem Bewusstsein zu reden! Er hatte kein falsches Bewusstsein. Er war er!
    Die Aufführung von Kommerells Gefangenen hatte bei ihm alle Gedanken versammelt, die sich nach dem Schülerbesuch aus Ostberlin und dem Lesen von Sonnenfinsternis und Dantons Tod dann entluden. Die Revolutionäre bei Büchner hatten ja etwas Romantisches, jedenfalls die Freunde Dantons. Das war ihm nicht entgangen. Überhaupt beeindruckte ihn die Revolution selbst. Sie war etwas Feuriges, nichts Kaltes, nicht einfach eine Idee, sondern etwas, das plötzlich geschah. Insofern war ihm die Rolle des russischen Revolutionärs nicht unangenehm. Er musste einen Menschen spielen, dessen Ideen er nicht völlig verachten müsste, auch wenn die Revolution, die dieser Kommissar verteidigte, eiskalt, jenseits alles Menschlichen zu liegen schien. Er verstand sogar besser als vorher, was den jungen Kommissar innerlich zerriss. Die hochgetrieben zeremonielle Sprache des Stücks sagte ihm allerdings immer weniger zu. Es war zum Teil sogar eine Qual, überhaupt zu verstehen, was sich schließlich hinter den hohen Worten und den hohen Seelen verbarg. Der schüchternen Gräfin aber schien gerade das aus der Seele zu sprechen, und weil er einen enormen Respekt vor ihr hatte, machte er keine abschätzigen Bemerkungen.
    Die Aufführung von Die Gefangenen war keine richtige Schulaufführung gewesen, das war von vornherein klar. Dafür waren der Autor und das Stück zu unbekannt. Man hatte nur zentrale Szenen des Dramas aufgeführt. Es wurde an einem der Samstagabende mehr oder weniger ausschließlich für die Oberklassen gespielt, ähnlich wie Hofmannsthals Der Tor und der Tod . Für Rüdiger war das seine letzte Rolle, denn sein Abitur stand bevor. Er selbst war gerade in die Unterprima gekommen und dachte nach Die Gefangenen an kein Theaterstück mehr, zumal er durch neue Interessen abgelenkt wurde. Aber dann hieß es, im nächsten Juli sei die Aufführung von Shakespeares Sommernachtstraum geplant. Er wurde von seinem Klassenlehrer, dem Lateinlehrer, der wie Cicero aussah, noch vor den Osterferien 1952 gefragt, ob er sich zutraue, zum Pensum der allmählichen Vorbereitung auf das Abitur, das März 1953 bevorstand, noch die Rolle des Oberon zu übernehmen, des Elfenfürsten. Feo wäre als Titania, die Elfenkönigin, vorgesehen. Dass er noch einmal mit Feo als Bühnenpaar zusammenkommen würde, war eigentlich nicht geplant. Aber Feo musste die Unterprima wiederholen und wurde seine Klassenkameradin, sie saß direkt neben ihm: Alle wussten, dass sich zwischen Feo und dem großartigen Regisseur seit einiger Zeit eine Liebschaft entwickelt hatte. Seit wann, das wusste er nicht genau. Möglicherweise hatte das ja schon bei den Proben zur Dame Kobold angefangen. Und eines Tages musste der wunderbarste Deutschlehrer, den die Schule je gehabt hatte, dem Unterricht fernbleiben. Es gab keine offizielle Erklärung, geschweige eine der düsteren Reden des Direktors. Der Lehrer blieb einfach weg, und Feo saß schweigsam in seiner und Adrians Klasse. Man rechnete mit Kameradschaftlichkeit ihr gegenüber, vor allem von ihm, denn er kannte sie ja am besten. Und so war es auch. Sie tat ihm leid, auch wenn er keine wahre Ahnung von der Erschütterung hatte, die ihr anzusehen war.
    Die Rolle des Oberon war nicht riesig, aber doch eine gewichtige. Für einen ehrgeizigen Schauspieler, das wurde ihm allerdings schnell klar, waren die Rollen des Puck und des Zettel sehr viel interessanter. Aber ihm gefiel Oberons Sprache. Sie war buchstäblich voller Zauber und bestand aus vielen phantastischen Wörtern. Es gab etwas Unheimliches dabei. Der Zauber, den der Elfenkönig über die anderen ausstreute, war ja nicht ohne Schrecken. Alle Personen wurden von einem Wahn befallen, die ganze

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