Granatsplitter
Gegenteil, sie war ganz gegenwärtig und überdies psychologisch interessant. Deshalb war es für den Griechischlehrer selbstverständlich, auch über die Moderne zu reden, zu der vor allem der französische Dichter Baudelaire gehörte. »Modern« hieß wohl alles, was kritisch, was fragend war gegenüber den üblichen Ideen und Vorstellungen. Ohne dass er es ausdrücklich ausgesprochen hätte, richtete sich sein kritisches Denken wohl auch gegen die Ideen des Schuldirektors. Platon, den sie später im Unterricht lesen würden, kam bei ihm kaum vor. In der Arbeitsgemeinschaft des Griechischlehrers hörte er auch zum ersten Mal die Namen des schwedischen Dramatikers August Strindberg und des englischen Lyrikers John Donne. Es war die Einführung in eine neue geistige Welt, ein Kennenlernen von Namen und Titeln, die offenbar zusammen mit anderen eine Hierarchie bildeten. Der Griechischlehrer, der, wie alle wussten, seine erste Frau an einen Schüler verloren hatte, war inzwischen erneut verheiratet, abermals mit einer sehr jungen und sehr schönen Musiklehrerin. Das trug zu seinem Nimbus bei. Er war eben modern in jeder Beziehung.
So prägte sich dem Jungen das Wort »modern« als der Name für etwas einerseits sehr Geistiges, andererseits sehr Physisches ein. Die Gedichte des altgriechischen Lyriker Archilochos zum Beispiel, von dem der Griechischlehrer eines Abends sprach. Der hatte etwas Kämpferisches, etwas Einsames, was der Junge mochte. Je früher ein Stück Literatur war, umso moderner konnte es sein, das war es, was der Griechischlehrer ihnen beigebracht hatte. Picassos Bilder würden das zeigen: Da könnte man mythische Figuren sehen, aber in einer ihre ursprünglichen Gestalten vollkommen verdrehenden Form. Was der Junge für sich aus solchen Bemerkungen lernte, war eine bestimmte Vorstellung von Schönheit. Schönheit, moderne Schönheit hatte nichts mit Harmonie zu tun. Das war es. Und das unterschied sich erheblich von dem, was er sonst im Unterricht so hörte.
Der Griechischlehrer war gerade dabei, ein Buch über den englischen Dichter Chaucer zu schreiben. Er wollte zurück an die Universität, aber nicht in eine altgriechische, sondern eine englische Fakultät. Für den Unterricht hatte das die Folge, dass er ihnen beibrachte, wie man einen Roman auf seine Motive hin untersucht. Das war eine ungeheure Neuigkeit für sie: zu sehen, wie bestimmte kurze Episoden oder Charaktere oder Vorkommnisse, die eigentlich ganz und gar nur zu dieser einen besonderen Geschichte gehörten, Vorläufer hatten. Es war überraschend, dass Literatur immer auf Literatur antwortete. Und das alles zu wissen, vor allem aber auch das Wissen an bestimmten Stellen so anzuwenden, dass dabei die besondere Geschichte mit einem Male anders erschien – dies war für ihn eine großartige Entdeckung.
Das zu können, so wie es der Griechischlehrer konnte, stachelte ihn zur Nachahmung an. Zum Beispiel wurde häufig auf ein Buch hingewiesen, das zeigte, wie die europäische Literatur von der lateinischen vorbereitet worden war. Der Autor hieß Ernst Robert Curtius. Der Junge kannte den Namen deshalb, weil dieser Professor ein Onkel des Direktors war, ein Bruder der Mutter des Direktors, die auch im Internat lebte. Man sah sie manchmal in einem wallenden weißen Gewand unten vor dem Schwarzwälder Bauernhaus, in dem ihr Sohn nachdachte. Was der Junge über das Buch hörte, war ihm zu gelehrt. Das andere Buch aber, über das der Griechischlehrer so nachdrücklich gesprochen hatte, hatte der Junge sich besorgt: Bruno Snells Die Entdeckung des Geistes . Der Untertitel Studien zur Entstehung des Europäischen Denkens bei den Griechen war zwar abschreckend, denn eigentlich interessierte er sich nicht für die Entstehung des Denkens, aber der Haupttitel interessierte ihn brennend. Nun war das leider ein Missverständnis, wie er dann herausfand. Er las nicht das ganze Buch. Das war schon deshalb unmöglich, weil er auch als Unterprimaner nur eine schwache Ahnung hatte von den Namen, die da vorkamen, Pindar oder Aristophanes. Aber die Kapitel über Homer, die olympischen Götter und auch das Kapitel über die frühe griechische Lyrik, die las er mit zunehmender Freude.
Sie waren ja im Griechischunterricht für Jahre mit dem Homer beschäftigt. Trotz des Einfallsreichtums des Griechischlehrers war das Lesen Homers inzwischen zu einer Routine geworden. Es ging eigentlich nur darum, die griechischen Hexameter richtig zu betonen und dann möglichst
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