Granatsplitter
schnell die Konstruktion des Satzes herauszufinden. Wenn man Glück hatte, wusste man die meisten Wörter, oder der Griechischlehrer rief sie einem zu. Aber die Homerische Welt, das merkte er jetzt, war dabei auf der Strecke geblieben. Nun aber, als er im Buch von Snell die minutiösen Erklärungen einzelner Verben las, besonders schon zu Beginn das Verb »sehen« oder das griechische Wort für »Körper«, ging ihm auf, wie langsam die Entwicklung gewesen war vom anschaulichen zum abstrakten Denken. Das anschauliche Selbst fesselte ihn am meisten. Er konnte den einzelnen Darstellungen von körperlich-psychischen Vorgängen, das heißt der Wörter dafür, nicht im einzelnen folgen. Schon der Versuch dazu gelang nicht. Aber dennoch verstand er, inwiefern im Anfang des Denkens ein Denken in Einzelheiten stand, noch kein Denken im Ganzen, wie das dann bei Platon aufgetreten war. Er hatte gegen diesen Philosophen ja allein schon deswegen eine Animosität, weil der Schuldirektor allen Schülern Platon anempfohlen hatte. Aber das war es natürlich nicht allein. Was er von Platon mitgekriegt hatte, war vor allem auch die Art und Weise, wie dieser immer in einem belehrenden Ton sprach. So als ob es nur eine richtige Weise des Denkens gäbe und alles andere Irrtum sei. Das ging ihm auf die Nerven. Ihm gefiel das homerische Detail sehr viel besser als das platonische Ganze oder die Idee.
Deshalb las er auch das Kapitel über die frühe griechische Lyrik, in dem Archilochos besprochen wurde, mit großer Aufmerksamkeit. Die Frechheit, mit der dieser allgemeine Tugenden und Wahrheiten verspottete, das war ganz nach seinem Geschmack. Er wurde für ihn zu einem Zeichen. Ein Zeichen für das, was ihn so anzog: das ganz Konkrete. Er besorgte sich sogar eine deutsch-griechische Ausgabe der Gedichte. Es waren ja meist Fragmente. Aber was er las, genügte ihm, um sich ein gutes Bild von dem Charakter und dem Empfinden dieses Dichters zu machen. Besonders gut gefiel ihm die Strophe, die auch in dem Buch Die Entdeckung des Geistes abgedruckt war: »Prahlend trägt nun der Thraker den Schild zwar, den ich im Dickicht, eine untadlige Wehr, ließ, und ich wollte es nicht. Aber ich selber entrann dem tödlichen Ende. Mein Schild nun sei nur dahin. Ich ersteh’ einen nicht schlechteren mir.«
Das war doch das Moderne, das Kritische, gegen die generelle Ansicht! Über die beiden anderen Lyriker, die vorkamen, Sappho und Anakreon, las er auch gerne, aber Archilochos blieb trotz der wunderbar lyrischen Stimmung von Sappho und auch von Anakreons Sprache seine wirkliche Entdeckung. Auch das Liebesgedicht von Archilochos: »Solch ein Liebesverlangen ist heimlich ins Herz hineingeschlichen, goß auf die Augen viel des dichten Nebels, stahl den feinen Verstand aus der Brust hinweg«. Das war wieder so eigentümlich negativ gesagt. Ihm selbst goss sich auch oft ein dichter Nebel über die Augen, so dachte er sich, und zwar nicht wegen irgendeiner Verliebtheit, sondern wegen seiner Versunkenheit und seinen ziellosen Träumereien. Diese Ziellosigkeit wollte er nicht immer unterbrochen wissen durch klare Schritte, die man ihm vorgab. Deshalb zog ihn der Satz »goß auf die Augen viel des dichten Nebels« an. Ein schöner Satz. Er sah darin keinen Verlust, sondern einen Gewinn: Nebel über den Augen zu haben! Denn das hieß ja, nicht nach außen, sondern nach innen zu sehen.
Am stärksten angeregt fühlte er sich von den Ausführungen über das Gleichnis und das mythische Denken. Der Griechischlehrer hatte ihnen gesagt, zwischen dem Mythischen und dem Logischen gebe es keinen so prinzipiellen Unterschied, wie man immer sage. Das letztere stecke schon im ersten, und das erste höre gar nicht auf, im letzteren anwesend zu sein. Es war gerade ein Buch erschienen, das sehr viel genannt wurde, weil es eben diesen Unterschied betonte: Mythisches und Logisches seien historische Gegensätze. Er übersetzte sich diesen Widerspruch seines Griechischlehrers, den er gar nicht wirklich beurteilen konnte, in seine neuerworbene eigene Ansicht, dass im Modernen immer etwas Antikes stecke und umgekehrt. Beim Weiterlesen des Buches von Bruno Snell lernte er das Wort »Metapher« kennen, das im Unterricht bislang nicht vorgekommen war. Das war schwierig zu verstehen. Aber die vielen Beispiele für den Unterschied zwischen einem Vergleich und einer Metapher machten die Sache einfacher. Vor allem aber war er von der poetischen Sprache, die in einer Metapher oder einem
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