Granatsplitter
Natur war voll davon. Als er dann bei der Aufführung im Sommer 1952 – sie fand im Freien statt, unterhalb einer großen Eiche auf der Höhe gegenüber der Schule – den Satz aussprach: »Wenn sie erwachen, ist, was sie betrogen, wie Traum und eitles Nachtgebild entflogen«, da war es ihm so, als ob er über solch einen Zauber wirklich verfüge. Und die Erklärung: »Doch wir sind Geister anderer Region«, sprach er, ohne dass ihn dazu jemand angehalten hätte, mit ungeheurem Gewicht aus. Und am Ende hatte er ja auch das letzte Wort, nämlich die Elfenbeschwörung.
Am nächsten Tag hingen die Fotos von der Aufführung zum Verkauf in der Eingangshalle. Vor allem ein Foto zeigte ihn in einem abwesend-verzückten Zustand, den Kopf nach oben gerichtet, die Hände ausgebreitet. Ganz in Weiß gekleidet mit einem zusätzlichen weißen Umhang, der mit Lorbeer durchflochten war. Dieses Foto kam irgendwie in die Hände des Vaters, der darüber wieder in Sorge geriet. Der Vater war nicht eingeweiht worden, dass der Sohn, so kurz vor dem Abitur, abermals Theater spielen würde. Und das Foto, das sagte der Vater ihm klipp und klar in den Ferien, zeige ja, wie sehr er sich immer wieder im Phantastischen wohlfühle.
Bei diesem Phantastischen blieb es aber nicht. Ende desselben Jahres, drei Monate vor dem Abitur, wurde das Oberuferer Christgeburtsspiel aufgeführt, wie jedes Jahr. Es kam dabei nicht auf das Schauspielern an, sondern darauf, einfache Bauernverse in den Rollen Marias und Josefs, des Engels, des Teufels, der Hirten und der Heiligen Drei Könige aufzusagen. Meistens wurden hierfür Schüler ausgesucht, die besonders positiv im Internatsleben aufgefallen waren. Es gab aber noch die Rolle des Herodes, des Mörders der Kinder von Bethlehem. Und diese Rolle sollte ausgerechnet der Junge spielen. In diesem Jahre hatte merkwürdigerweise die Frau des Direktors, die berühmte Bachpianistin, darauf bestanden, die Aufführung vorzubereiten. Sie war es auch, die ihn fragte, ob er denn Lust dazu habe. Da kam ihm eine Idee. Er antwortete ihr, der Herodes sei doch so etwas wie ein römischer Prokonsul gewesen. Er sollte nicht mehr, wie bisher, einfach ein langes Gewand und eine goldene Krone tragen, sondern einen Brustpanzer, einen kurzen Leibrock, Sandalen und einen Kopfreif. Auf diese eitle Idee hatten ihn Hollywoodfilme gebracht, die im kaiserlichen Rom spielten. Der Frau des Direktors leuchtete das ein. Er stand also nicht mehr wie in früheren Aufführungen aufrecht neben den anderen und sagte seine Verse auf. Vielmehr kauerte er drohend auf einem Sessel, das Schwert auf den nackten Knien. Als der Engel, es war noch einmal Feo, ihn anherrschte: »Herodes, Herodes, du böser Tyrann, was haben dir die armen Kindlein getan?«, da reagierte er, wie geplant, mit einer theatralischen Geste. Offensichtlich hatte das eine große Wirkung. Die Witwe des Verschwörers sagte nach der Aufführung zu ihm, wie überzeugend er gewesen sei, auch die Frau des Direktors war sehr zufrieden. Der Direktor dagegen reagierte außerordentlich gereizt darüber, was seine Frau zugelassen hatte. Aus einem einfachen Bauernspiel eine Tyrannenszene zu machen!
EINE ENTDECKUNG DES GEISTES
Die beiden Jahre der Untersekunda und Obersekunda erlebte er auf der Schule so bewusst wie nie zuvor und nie danach. Das Theater war nicht der einzige Grund. Der andere war, dass bestimmte Fächer auf ihn besonders anziehend wirkten. Er spürte einen Sog, Literatur so zu erklären, wie das vor allem der Griechischlehrer tat, den sie jetzt auch für ein Jahr im Deutschunterricht hatten. Der Griechischlehrer war neben dem Deutschlehrer mit den langen Haaren der einzige, der ihn und einige andere Klassenkameraden von Anfang an durch die Art seiner Rede tief beeinflusste und anregte. Diese Gruppe ging auch einmal in der Woche zu einer sogenannten abendlichen Arbeitsgemeinschaft, wo man zusammen einen ausgewählten Text moderner Literatur las. Er lernte, was das Wort »modern« eigentlich bedeute. Der Griechischlehrer hatte dazu eine besonders komplizierte Ansicht. Einerseits war jemand, der keine Kenntnisse der altgriechischen Literatur hatte, ein geistiger Niemand für ihn. Das kam immer wieder in Nebenbemerkungen heraus, die hochmütig klangen und sich gegen jeden richteten, der glaubte, das Altertum im Namen der modernen Zeit links liegen lassen zu können. Die griechische Literatur war für ihn modern! Sie hatte für ihn nichts Abgehobenes oder gar Heiliges, im
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