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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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Gleichnis auftritt, gefesselt. Deshalb las er überhaupt weiter. Eine Wendung wie »bleicher als Gras« merkte er sich. Er schlug im Homer eine Stelle über den Zorn des Achilles nach, wo es vom Zorn hieß, dass »er viel süßer sei als Honig, wenn er hinuntergleitet und dann aufschwelle wie Rauch«. Das war dieselbe Sprache wie in dem Gedicht von Archilochos. Es war zunächst solch ein metaphorisches Sprechen, das ihn fesselte. Dann erst kam, was Snell darüber erklärend ausführte. Das Wort »thymos« zog ihn an. Das war doch nicht nur eine Eigenschaft der griechischen Frühzeit, das galt doch immer noch. Über die Gründe des »thymos« konnte man ja sehr verschiedener Meinung sein, ob es ein richtiger oder falscher Urgrund sei. Aber der »thymos« selbst war ja da. Jedenfalls sollte er da sein, wenn Menschen wirklich lebendig waren. Er jedenfalls fühlte »thymos« in sich, jeden Tag auf der Schule.
    Der Gedanke, wie sich die Vorstellung von etwas Geistigem und Seelischem erst allmählich aus der anschaulichen Körperlichkeit, die man sah, entwickelte, setzte das Körperliche ja nicht zurück. Ganz im Gegenteil, es war die Grundlage. Psyche war eben der Lebenshauch, und Wissen war ein Gesehenhaben. Ihm wurde bei diesen Eindrücken noch deutlicher, warum ihm das, was er bisher von dem berühmtesten griechischen Philosophen gehört hatte, nicht sympathisch war. Bei dem ging ja alles in die entgegengesetzte Richtung: Alles Körperliche würde erst wichtig, wenn es ein Geistiges geworden war. Es war die beschriebene Wirkung der Wörter, die ihn am Buch interessierte. Das Wort »pathos«, das er bisher mehr oder weniger negativ mit »pathetisch« zusammengebracht hatte, bekam jetzt einen anderen Klang, den des Klanges der poetischen Sprache. Mit diesem Wort hing ein anderes Wort zusammen, das ihm einiges von früher erklärte: »erhaben«. Die Metaphern beschrieben oft etwas Erhabenes, weil sie es erhoben, in die Höhe hoben. Das war wohl auch der Grund, warum Agamemnon einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte – weil das Stück in einer solch poetischen Sprache sprach. Diese hob alles empor, eben ins Erhabene. Deshalb mochte er auch die Philosophen vor Platon viel mehr als Platon selbst. Weil ihre Sprache poetisch klang und in einen eindrang, auch wenn man ihren Sinn nicht sofort verstand. In dem Buch Die Entdeckung des Geistes wurde ein langer Satz des ihm unbekannten Philosophen Empedokles wiedergegeben. Und dieser Satz, in dem nach Bruno Snell der Umschlag von Poesie in Philosophie zu erkennen ist, war prall von großartigen Bildern. Es ging um den Unterschied zwischen den Vergleichen bei Empedokles und den Vergleichen bei Homer, von denen Empedokles angeregt worden war. Für ihn waren zunächst einmal die Bilder selbst wichtig. Natürlich dienten sie zu einem neuen Zweck, eben dem philosophischen. Aber dass Empedokles sich die Mühe gemacht hatte, seine Philosophie in bildlichen Vergleichen so überaus überraschend und gleichzeitig überzeugend auszudrücken, das hatte seine ganze Sympathie.
    Das ganze Buch handelte ja von der Entdeckung des Geistes in der griechischen Literatur. Danach steckte in der poetischen Sprache der Mythen etwas, was für die späteren Griechen zu entdecken war: nämlich sich selbst besser zu verstehen. Für ihn hieß das: dass die Schule ein altgriechischer Ort sei. Sie war ein Ort des Geistes. Alles, was er an dem Griechischlehrer so aufregend fand, lief darauf hinaus, dass er ihnen eine Gemeinschaft in diesem Geist versprach und verschaffte. Der Junge nahm sich vor, immer darin zu verbleiben.
    Neben dem Griechischlehrer gab es für die alten Sprachen zwei andere Lehrer, die einen gewissen Einfluss auf sein Denken ausübten. Beide unterrichteten ausschließlich Latein. Der eine wurde auch sein Mentor und schickte dem Vater Briefe über den verderblichen Einfluss des Theaterspielens auf den Sohn. Der andere wurde sein Hauserwachsener, ein intern wohnender Lehrer, der auch im Internat Verantwortung ausübte. Der Mentor war eigentlich klassischer Archäologe und hatte ein bedeutendes Buch mit dem Titel Fahren und Reiten geschrieben. Das ging über die Entwicklung der älteren Kulturen am Beispiel ihrer kriegerischen Techniken. Solche Einzelheiten lernten sie erst mit der Zeit kennen, aber dann waren sie stolz darauf, einen Lehrer mit solchen Kenntnissen zu haben. Er war im Krieg Universitätsprofessor gewesen. Dasselbe galt für den anderen Lateinlehrer, einen sehr viel

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