Granatsplitter
denen er, wovon er überzeugt war, ein ausgezeichnetes Wissen verdankte. Außerdem waren sie ja vom Schuldirektor berufen worden, und dieser Schuldirektor war ein Gegner des Regimes gewesen, der seinen Platz an der Schule aufgegeben und nur noch private Studien betrieben hatte. Wenn dieser also die beiden ehemaligen Professoren als geeignete Lehrer für seine Schule ansah, dann konnten sie keine wirklichen Anhänger des Regimes und seiner Lehre gewesen sein. So dachte er. Erst allmählich sprach er auch mit anderen Lehrern darüber. Das war einerseits die Frau des 20.-Juli-Verschwörers und andererseits ein neuer Geschichtslehrer. Der neue Geschichtslehrer hatte den Krieg mitgemacht. Er war Berufsoffizier gewesen, hatte aber nach 1945 noch einmal studiert und in der nahen Universitätsstadt seinen Doktor gemacht. Er unterrichtete nun neuere europäische Geschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Bei dieser Gelegenheit kam er auch auf die Revolution von 1848 zu sprechen und ihren Misserfolg in Deutschland. Er sprach auch über Bismarck und warum der soviel Erfolg bei den Deutschen gehabt habe. Nicht bei allen, wie der Junge ja aus der eigenen Familiengeschichte wusste. Der Lehrer war unentschieden zwischen seiner Kritik und seiner Sympathie für Bismarck. Das lag wohl daran, dass er noch immer ein patriotisches Gefühl für Bismarcks Preußen hatte. Jedenfalls das Preußen des berühmten Königs. Der Geschichtslehrer stammte selbst aus Brandenburg. Brandenburg! Er hörte das Wort seitdem besonders gerne. Als sie in einer Arbeitsgemeinschaft Heinrich von Kleists Drama Der Prinz von Homburg lasen, tauchte vor ihm das letzte Wort des Stücks mit einem gloriosen Klang auf: »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!« Das war unvergesslich. In der rheinischen väterlichen Familie kam das Wort so nicht vor. Im Gegenteil: Alles Preußische galt als fremd. Das hatte den Vater aber nicht daran gehindert, die preußischen Attentäter zu bewundern.
Es stellte sich heraus, dass der Geschichtslehrer den hingerichteten Mann der Witwe sehr gut gekannt hatte. Er war in das Komplott eingeweiht gewesen und am Tage des Attentats in der Berliner Militärzentrale anwesend, nämlich als eine Art Assistent des Hingerichteten. Der zehn Jahre ältere Verschwörer und sein Assistent hatten sich als Mitglieder desselben berühmten preußischen Infanterieregiments kennengelernt. Da sein Name aber nicht auf irgendeiner Liste verzeichnet war und bei den Verhören auch nicht genannt wurde, weil die Verhörten durchweg schwiegen, blieb er unentdeckt. Er war am Abend, als die ersten Verhaftungen und Erschießungen durchgeführt wurden, aus dem Gebäude entkommen. Der sehr ernste Geschichtslehrer wurde für die Klasse, jedenfalls für diejenigen, die sich wie er für Geschichte und Politik interessierten, folgenreich. Am Anfang sprach dieser kein Wort über die Ereignisse des Juli-Attentats. Eines Abends aber, als der Junge und zwei Klassenkameraden bei ihm in seinem Internatszimmer zum Tee eingeladen waren, erzählte er Näheres darüber. Nicht nur über die Ereignisse selber, die schon im Geschichtsunterricht behandelt worden waren, sondern Einzelheiten über die Verschwörer. Vor allem auch über den Mann der Witwe. Der Junge erfuhr jetzt zum ersten Mal, wie wichtig dieser für die politische Vorbereitung des Attentats gewesen war. Ein völlig furchtloser Mensch mit einem abenteuerlichen Geist, der schon vor dem Krieg versucht hatte, im Offizierscorps Gleichgesinnte gegen den Diktator zu finden. Auch derjenige Offizier, der das Attentat dann tatsächlich ausgeführt hatte, sei von seinem Freund darauf vorbereitet worden. Dass der Diktator getötet werden müsse, sei dem Mann der Witwe schon sehr früh klar gewesen, im Unterschied zu anderen Gegnern des Regimes, die sich mit der Idee eines Mordes erst spät oder gar nicht befassen wollten, weil ihr christlicher Glaube dagegen stand. Auch der Verschwörer war ein gläubiger Protestant gewesen. Er war aber in der altpreußischen Tradition erzogen worden in einer Familie, die wie viele andere Familien dieser Herkunft seit langer Zeit dem Staat in der Verwaltung und im Heer gedient hatte. Im Anfang hatte er das neue Regime unterstützt. Er hatte geglaubt, es sei eine soziale Revolution im Geist der preußischen Auffassung von Recht und Ordnung gegen die Korruption. Dann aber habe er endlich seinen Irrtum eingesehen und sich Ende der dreißiger Jahre vom Regime abgewandt.
Es kamen bei diesen Abenden
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