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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Bohrer
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Themen zur Sprache, die im Unterricht nicht behandelt wurden. Wieso doch eine ganze Reihe von Verschwörern, wenn sie nicht Sozialisten waren, im Anfang das Regime unterstützt hatten. Das habe zwei Gründe gehabt. Viele seien von Tradition und Erziehung her nicht über die Niederlage im Ersten Weltkrieg hinweggekommen und hätten den Friedensvereinbarungen mit den Alliierten nicht zugestimmt. Deshalb wäre ihnen die nationalistische Richtung des Regimes gerade recht gewesen. Ebenso hätten viele in diesem Regime den einzigen Schutz gegen den drohenden Sozialismus gesehen. Noch stärker hätte die Furcht vor dem russischen Kommunismus gewirkt. Denn der lag ja direkt vor der Tür der Besitzungen des preußischen Adels im Osten. Der ernste Geschichtslehrer entschuldigte nichts an der ursprünglichen Sympathie einiger Verschwörer. Er kritisierte sie auch nicht. Der Junge selbst war durch Koestlers Buch Sonnenfinsternis sowieso der Meinung, dass der Kommunismus genauso übel sei, wie das deutsche Regime es gewesen war. Dass man sich gegen den Kommunismus damals schützen wollte, sogar durch einen Krieg, selbst das kam ihm zumindest verständlich vor. Andererseits hätten die Verschwörer in ihrer Jugend ja schon merken können, mit welch gefährlichen Menschen ohne jede Moral man es zu tun bekam, als die neue Partei gegen die jüdische Bevölkerung und auch die Kommunisten und Sozialdemokraten vorging. Eines war klar, noch zum Zeitpunkt des Entschlusses, gegen den Diktator vorzugehen und ihn sogar zu töten, kämpften einige von ihnen als Offiziere in Russland. Als Gerüchte, dann sogar Kenntnisse über die Massenmorde durchsickerten, wurde dieser Kampf umstritten.
    In seiner Klasse gab es nur einen Jungen, dessen Familie richtig dazugehört hatte. Sie wohnte jetzt auf einem Gut im Norden des Landes. Die anderen, die an diesen Abenden dabei waren, stammten alle aus westdeutschen Gegenden. Die Herkunft dieser Attentäter war ihnen fremd. Sie wussten aber, dass es in der Schule eine ganze Reihe von Jungen und Mädchen gab, deren Väter, Brüder oder Onkel in die Verschwörung verwickelt gewesen waren. Das genügte schon, sich über das Thema Gedanken zu machen. In den Zeitungen und in der Politik hörte man ja nichts mehr von ihnen. Bei ihm selbst war das anders, weil der Vater immer wieder auf das Attentat zu sprechen gekommen war. Es ging dabei um den Vorwurf, diese Männer hätten viel zu spät gehandelt, und sie hätten es auch nicht richtig angestellt. Er fand diesen Vorwurf völlig unberechtigt. Das lag auch daran, dass er von zwei Jungen des Internats erfahren hatte, dass schon viel früher solche Attentate geplant gewesen waren. Des einen älterer Bruder und des anderen Onkel hatten beide vorgehabt, in einem Überfall aus unmittelbarer Nähe den Diktator mit einem Sprengsatz zu töten, wobei sie selbst umgekommen wären. Das war nur durch einen unvorhersehbaren Zufall gescheitert. Ob das Attentat richtig vorbereitet worden war, darüber konnte er sich kein Urteil bilden. Er fand es aber lächerlich, wenn jetzt irgendwelche daherkämen, die nie eine Hand gerührt hätten, und sich große Ansichten erlaubten. Darin war er sich vor allem mit dem ernsten Geschichtslehrer einig. Mit seinem Freund Adrian, der an diesen Abenden auch nicht dabei war, sprach er seltsamerweise nie über diese Thematik.
    Wenig später, als er wieder bei der Witwe eingeladen war, erzählte diese, wie sie den Tag vor dem Attentat und den Tag danach verbracht hätte. Nicht in der Hauptstadt, sondern auf dem Besitz ihrer Schwägerin auf dem Lande, wo sie mit ihren sechs Kindern seit längerem wohnte. Sie hatte am gleichen Tag ihren fünfunddreißigsten Geburtstag, als das Attentat über den Rundfunk gemeldet wurde. Ihr Mann hatte sich am Vortag von ihr verabschiedet, um zurück in die Hauptstadt zu fahren. Während des Tages hatten sie noch Besuch von einem bekannten Film- und Theaterschauspieler, einem engen Freund. Ihr Mann, manchmal abwesend in seinen Gedanken, habe nur gesagt: »Hofft mit mir, dass es gelingt.« Alle hätten ihn verstanden, ohne dass er es genauer erklären musste. Als sie beide alleine im Wagen zur Bahn in die nahe Kreisstadt fuhren, da habe er auf ihre Frage, ob der Mann denn getötet werden müsse, nur gesagt, ja, das müsse er. Er habe hinzugefügt, es stünde fifty-fifty, ob es gelänge.
    Sehr offenherzig sprach sie auch darüber, wie isoliert ihr Mann in seiner eigenen Familie gewesen war, abgesehen von seiner

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